Bruchstellen im amerikanischen Selbstverständnis

11.03.2013
Die Schriftstellerin Grace Paley war eine politische Aktivistin in den USA, sie kämpfte gegen Atomwaffen und Vietnamkrieg. Geschrieben hat sie vor allem Gedichte und Kurzgeschichten. Der Band "Die kleinen Widrigkeiten des Lebens" ist jetzt in einer neuen Übersetzung herausgekommen.
Grace Paley war eine der großen US-amerikanischen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts, keine Vielschreiberin, aber eine begnadete Stimmenfängerin. Sie belauschte die vielen Weisen, mit Sprache umzugehen, zur Bestätigung oder zur Abgrenzung und als Überlebensmittel: schnell und gemein, schlagfertig und ironisch, angeberisch und neunmalklug.

Schon mit der ersten Geschichte "Auf Wiedersehen und viel Glück" ist man sofort drin in dem speziellen Paley-Sound. Ton und Erzählweise einer ganz und gar unverwechselbaren Person werden hörbar, die von Tante Rosie, die ihre unkonventionelle Lebensgeschichte Revue passieren lässt: nicht ohne Stolz, dabei schnoddrig, lebensklug und widerspenstig, lakonisch und exaltiert.

Schließlich hatte sie einen Theaterfimmel und war als junge Frau bei der russischen Künstlerbühne in New York gelandet. Schon damals durchbrach ihre Beziehung mit dem verheirateten Schauspieler Volodya Vlashkin die Bahnen des Ordentlichen. Nun, alt geworden, einsam und von seiner Frau verlassen, wird er sie heiraten. Nach ihrer offenherzigen und in gewisser Weise auch triumphierenden Suada, gibt sie ihrer Nichte den Auftrag: "(…) erzähl Du, Lillie, mein Schatz, deiner Mama mit deinem jungen Mund diese Geschichte. Mir hört sie nicht zu, keine Sekunde lang. Sie schreit immer nur: "Ich werd nicht mehr, ich werd nicht mehr."

Nur in New York sind sie denkbar, diese mal rohen, mal poetischen Geschichten. Sie verhandeln auf unterschiedliche Weise die Bruchstellen im amerikanischen Selbstverständnis, beleuchten, was passiert wenn Kontinente aufeinanderprallen: ob Mann und Frau, Generationen oder die unterschiedlichen ethnischen Gruppen der Stadt.

Verdreht und komisch, wie in "Die lauteste Stimme" jüdische Kinder den christlichen die Rollen in der Weihnachtsgeschichte wegschnappen - "Weihnachten ... die ganze Bescherung ... es gehört ihnen sowieso". Andere Erzählungen sind beiläufig, verrückt, tieftraurig oder hoffnungslos tragisch. Nicht selten legen sie falsche Fährten, führen ein Eigenleben und enden hoffnungsvoller als erwartet. "Ich will das Ende nicht zu eng schnüren."

In einem Interview erzählte mir die Autorin Mitte der 1990er-Jahre, sie habe sich selbst Geschichten erzählen wollen, die sie so noch nirgendwo gelesen habe. Die aus einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie stammende Paley fand sie in zu engen Wohnhäusern, auf Spielplätzen, auf der Straße, in Bars und in unterschiedlichen Bürgerrechts- und Frauengruppen, in denen sie seit dem Vietnamkrieg bis ins hohe Alter aktiv war.

Sie erzählt Geschichten, die nichts mit der eigenen Befindlichkeit zu tun haben, sondern nach dem Wahrnehmungsgefüge anderer strukturiert sind. Visuelle Beschreibungen und psychologische Tiefenbohrungen sind dabei ihre Sache nicht: Es steckt wirklich alles in der Sprachbewegung, in verrückten Argumenten, prägnanten Bildern, was die frühere Lyrikerin verrät. Die neue Übersetzung, weniger bürokratisch, näher am Gesprochenen, auch durchsetzt mit jiddischen Ausdrücken, lässt die große Kunst der Stimmenfängerin lebendig werden.

Besprochen von Barbara Wahlster

Grace Paley: Die kleinen Widrigkeiten des Lebens
Aus dem Englischen neu übersetzt von Sigrid Ruschmeier
Schöffling, Frankfurt 2013
256 Seiten, 19,95 Euro