Britische Geschichte in vielen Facetten
Geschichtswissenschaft ist mehr als das Erforschen und möglichst objektive Darstellen und Deuten von Ereignissen der Vergangenheit. Geschichtswissenschaft ist auch die Wissenschaft von Wahrnehmungen.
Wie nehmen Deutsche und Briten sich und die jeweils anderen europäischen Länder wahr? Die neue Reihe im C. H. Beck Verlag "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert" zeigt anhand der wichtigsten europäischen Länder, wie das jeweilige Land sich im 20. Jahrhundert aus seiner Vorgeschichte heraus entwickelt und wie es auf die Entwicklungen der anderen Länder reagiert hat beziehungsweise welche Prozesse in dem porträtierten Land ähnlich, zeitversetzt oder unterschiedlich verliefen.
Wer sich mit der Geschichte Großbritanniens auskennt, wundert sich oft darüber, wie Deutschland-zentriert die meisten deutschen Historiker die Geschichte "Englands" wahrnehmen. Wer allerdings Franz-Josef Brüggemeiers Porträt von Großbritannien zur Hand nimmt, wird von einem wohltuend fairen, umfassend informierten Kenner durch die sehr komplexe und den meisten Deutschen doch sehr fremde Geschichte Großbritanniens geführt, sodass er am Schluss versteht, wie die spezielle Chemie dieses Landes funktioniert. Fast ausschließlich schöpft Brüggemann aus englischsprachigen Quellen, die insgesamt ein Spiegel der vielen Facetten der britischen Geschichte sind.
Ausgehend von der Beerdigung von Königin Victoria am 1. Februar 1901, als die Epoche des britischen Weltreichs fast auf ihrem Höhepunkt war, erzählt Brüggemeier die "hohe" und die "niedere" Geschichte in eindrucksvoll ehrlicher Weise. Weder vertuscht er die Schattenseiten noch glorifiziert er die Erfolge britischer Politik. Es gelingt dem Autor, ohne Schärfe und Häme die erschreckende Realität des britischen Imperialismus und Rassismus im historischen Kontext zu benennen und dabei aufzuzeigen, welche Auswirkungen die krassen Verstöße gegen die Menschenrechte hatten und wie es immer wieder gelang, durch Selbstreinigungsprozesse Korrekturen des Systems zu vollziehen.
Vom Alltagsleben, der Klassengesellschaft, der Innovationsfähigkeit, dem Beharrungsvermögen der alten Eliten und ihrer erzwungenen Anpassung an neue Bedingungen erfährt der Leser sehr viel; es ist, als ob man einen sehr gut gemachten Dokumentarfilm vorgespielt bekäme und gleichsam zum Zeitzeugen mutierte - von ganz kleinen, aber auch den großen beispielhaften Szenen aus dem Leben eines Volkes, das sich nach innen und außen im Konzert der Konkurrenten und der Verbündeten zu behaupten hatte.
Zum Autor:
Franz-Josef Brüggemeier, geboren 1951 in Bottrop, studierte Geschichte, Sozialwissenschaften und Medizin in Bochum, München, York (England), Bremen und Essen. Promotion in Geschichte und Medizin. Seit 1998 Lehrstuhlinhaber für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschien von ihm im Campus Verlag, Frankfurt am Main, das Buch "Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen". In den letzten Jahren publizierte er vor allem zu Themen der Umweltgeschichte, der Geschichte des Sports in der modernen Gesellschaft und der Medizingeschichte. Er ist Kuratoriumsmitglied der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, der Bibliothek des Ruhrgebiets und der Kulturstiftung des DGB.
Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr
Franz-Josef Brüggemeier: Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert
Reihe Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert
Herausgegeben von Ulrich Herbert
C.H.Beck, München 2010
463 Seiten mit 4 Karten, 26,95 Euro
Wer sich mit der Geschichte Großbritanniens auskennt, wundert sich oft darüber, wie Deutschland-zentriert die meisten deutschen Historiker die Geschichte "Englands" wahrnehmen. Wer allerdings Franz-Josef Brüggemeiers Porträt von Großbritannien zur Hand nimmt, wird von einem wohltuend fairen, umfassend informierten Kenner durch die sehr komplexe und den meisten Deutschen doch sehr fremde Geschichte Großbritanniens geführt, sodass er am Schluss versteht, wie die spezielle Chemie dieses Landes funktioniert. Fast ausschließlich schöpft Brüggemann aus englischsprachigen Quellen, die insgesamt ein Spiegel der vielen Facetten der britischen Geschichte sind.
Ausgehend von der Beerdigung von Königin Victoria am 1. Februar 1901, als die Epoche des britischen Weltreichs fast auf ihrem Höhepunkt war, erzählt Brüggemeier die "hohe" und die "niedere" Geschichte in eindrucksvoll ehrlicher Weise. Weder vertuscht er die Schattenseiten noch glorifiziert er die Erfolge britischer Politik. Es gelingt dem Autor, ohne Schärfe und Häme die erschreckende Realität des britischen Imperialismus und Rassismus im historischen Kontext zu benennen und dabei aufzuzeigen, welche Auswirkungen die krassen Verstöße gegen die Menschenrechte hatten und wie es immer wieder gelang, durch Selbstreinigungsprozesse Korrekturen des Systems zu vollziehen.
Vom Alltagsleben, der Klassengesellschaft, der Innovationsfähigkeit, dem Beharrungsvermögen der alten Eliten und ihrer erzwungenen Anpassung an neue Bedingungen erfährt der Leser sehr viel; es ist, als ob man einen sehr gut gemachten Dokumentarfilm vorgespielt bekäme und gleichsam zum Zeitzeugen mutierte - von ganz kleinen, aber auch den großen beispielhaften Szenen aus dem Leben eines Volkes, das sich nach innen und außen im Konzert der Konkurrenten und der Verbündeten zu behaupten hatte.
Zum Autor:
Franz-Josef Brüggemeier, geboren 1951 in Bottrop, studierte Geschichte, Sozialwissenschaften und Medizin in Bochum, München, York (England), Bremen und Essen. Promotion in Geschichte und Medizin. Seit 1998 Lehrstuhlinhaber für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschien von ihm im Campus Verlag, Frankfurt am Main, das Buch "Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen". In den letzten Jahren publizierte er vor allem zu Themen der Umweltgeschichte, der Geschichte des Sports in der modernen Gesellschaft und der Medizingeschichte. Er ist Kuratoriumsmitglied der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, der Bibliothek des Ruhrgebiets und der Kulturstiftung des DGB.
Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr
Franz-Josef Brüggemeier: Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert
Reihe Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert
Herausgegeben von Ulrich Herbert
C.H.Beck, München 2010
463 Seiten mit 4 Karten, 26,95 Euro