Brille lieber per Mausklick

Von Po Keung Cheung · 12.11.2013
Die Online-Nutzer haben die Scheu verloren und trauen sich mittlerweile, auch Dinge im Internet zu kaufen, die eingehende Beratung benötigen - wie etwa Brillen. Das Wissen des Fachverkäufers im Laden scheint nicht mehr gefragt zu sein.
Das Werbevideo will es schmackhaft machen: Die Brille einfach per Mausklick bestellen und nach Hause liefern lassen.

In der Berliner Firmenzentrale des Internet-Brillenshops "Mister Spex" stapeln sich die Pakete. Das Geschäft läuft gut, obwohl es eigentlich ungewöhnlich ist. Denn das Produkt ist, anders als CDs oder Bücher, sehr individuell und beratungsintensiv: Welches Gestell passt zur Gesichtsform? Welche Materialien gibt es? Welche Gläsersorten eignen sich bei welcher Stärke? "Mister Spex"-Gründer Dirk Graber:

"Es war natürlich ein großes Risiko, weil wir zwar gesehen haben: Brille gibt es noch nicht online. Aber es war ein riesiger Markt, also war es eine Herausforderung."

Auch Anbieter wie "Brille24" oder "Netzoptiker" mischen mit. Und alle mussten sich etwas einfallen lassen, um ihre Kunden im Internet zu beraten. So werden Fachbegriffe wie Dioptrien oder Zylinder ausführlich erklärt und die Maße der Fassungen auf den Millimeter genau angegeben. Und wenn Fragen offen bleiben, hilft eine Telefon-Hotline.

Eine so genannte Online-Anprobe ersetzt den Spiegel im Laden: Der Kunde lädt ein Foto von seinem Gesicht hoch oder setzt sich vor die Computerkamera. Die angebotenen Fassungen werden dann virtuell auf die Nase gesetzt.

Nicht nur Brillen, auch andere Produkte werden online angeboten, die eigentlich beratungsintensiv sind, etwa Hörgeräte. Die Internet-Anbieter sind hier ebenfalls kreativ: Es gibt interaktive Fragebögen und Online-Hörtests, die helfen sollen, den Bedarf zu ermitteln.

Um einen teuren Fehlgriff zu vermeiden, muss der Kunde genau überlegen: Welches Modell für welche Hörschwäche? "Hinter dem Ohr-Gerät" oder ein "Im-Ohr-Modell"? Welche Verstärkung soll es bieten?

Bei der Brille müssen die Angaben für Dioptrin- und Zylinderwerte, Achse und Pupillendistanz stimmen. Wer sich jeweils nicht ganz sicher ist, der wird die persönliche Beratung im Ladengeschäft zu schätzen wissen, wie Gunnar Schwan von der Stiftung Warentest erläutert:

"Man hat das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, da können viele Fragen gestellt werden, da kann auch viel in der Situation des Kunden nachgefragt werden. Das ist zwar bei online auch möglich, aber nicht in der Tiefe…"

Dafür lockt oft der günstige Internet-Preis: Die Brille mit Gläsern gibt es schon für 40 Euro, im Laden wäre das Doppelte fällig. Und bei Hörgeräten ist sogar eine Ersparnis von mehreren hundert Euro möglich. Da verzichtet der Verbraucher gerne schon einmal auf Beratung im Laden, sucht die Informationen im Netz und liest Kundenbewertungen.

"Das Individuelle ist genau der Knackpunkt. An den Stellen, wo es um allgemeine Serviceleistungen et cetera geht, da kann man sich sicherlich auf andere Meinungen verlassen. Aber wenn es um die individuelle Versorgung geht, dann ist es natürlich schwierig, das online genauso gut hinzustellen, wie in einer stationären Versorgungsform."

Hinzu kommt, dass nicht alles online funktioniert. Die Bestimmung der Sehstärken zum Beispiel. Deshalb schlägt "Mister Spex", anders als die Konkurrenz, dann doch eine Brücke zum klassischen Ladengeschäft.

"Können Sie mir die oberste Reihe bitte vorlesen? ‒ Zwei-drei-fünf-acht-sechs. ‒ Okay. Wird es mit dem nächsten Glas schlechter, etwas matter? ‒ Nein, es ist gut so! ‒ Okay, wird es jetzt schlechter? ‒ Ja! ‒ Sehr gut!"

So genannte Partneroptiker, 300 bundesweit, führen Sehtests durch und nehmen später die Anpassung der fertigen Brille vor. Sie bekommen dafür eine Provision. Für den Berliner Optikermeister Thomas Bursche ist die Kooperation ein spannendes Experiment.

"Natürlich Neugierde, was sind das für Kunden, die online kaufen. Auch diese Aufgeschlossenheit in der heutigen Zeit, also sich neuen Vertriebswegen für Konsumenten nicht zu verschließen."

Der Hörgeräte-Versand setzt ebenfalls auf die Partnerschaft mit stationären Läden, die Anpassung und Einstellung vornehmen.
Der klassische Ladenbesitzer ist kritisch. Kein Wunder: Die persönliche Beratung ist schließlich seine Stärke. Und lange Zeit sah es so aus, als ob ihm diese Rolle niemand streitig machen könnte. Aber Volker Scheel, Inhaber eines Brillengeschäfts und stellvertretender Obermeister der Berliner Augenoptiker-Innung muss nun zugeben, dass das Thema in seiner Zunft unterschätzt wurde:

"Onlinehandel und Brille haben wir im Grunde genommen nicht miteinander verbunden und jetzt sehen wir einen, dem ist es gelungen, das online anzubieten und bestimmte Dinge zu lösen."

Trotzdem bleibt er bei der Meinung, dass der Fachmann im Laden viel individueller auf den Kunden eingehen kann:

"Ich kann reagieren auf eine Wange oder auf einen Nasenrücken, der ein bisschen problematisch ist, ich kann vielleicht eine Musterverglasung machen, damit er sich einmal die neue Form, die wir uns ausgesucht haben, anschaut, und arbeite im zweiten Schritt dann seine individuellen Gläser ein. Das kann ich nie online bekommen."

Die Online-Händler sehen das naturgemäß anders. Sie sind überzeugt, dass ihre Konzepte auf Dauer funktionieren. Die Internet-Nachfrage für beratungsintensive Produkte steigt. Mirko Casper, Geschäftsführer beim Brillen-Versender "Mister Spex" ist sich zudem sicher: Es gibt nichts, was sich nicht per Mausklick verkaufen lassen könnte:

"Also ich kann mir spontan nichts vorstellen, muss man ehrlich sagen."

Vorausgesetzt, dass auch im virtuellen Geschäft die Beratung stimmt. Wer sich die Mühe macht und sich ausführlich informiert, kann im Internet bei beratungsintensiven Produkten durchaus sein Schnäppchen machen. Wer sich eine solche Eigenverantwortung jedoch nicht zutraut, der ist beim Fachhändler um die Ecke wohl besser aufgehoben.
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