Brillanter Exzentriker

Von Susanne Billig · 01.08.2006
Wohl kaum ein anderer Detektiv der Literaturgeschichte ist so beliebt wie der Pfeife rauchende Sherlock Holmes. Zusammen mit seinem Gehilfen Dr. Watson löst der Exzentriker auf brillante Weise kriminalistische Fälle aus London und der ganzen Welt. Für 15 Euro gibt es den kompletten Sherlock Holmes nun digital zu erwerben.
"Eine einsame, schreckliche Gestalt lag ausgestreckt auf den Bohlen und starrte mit leeren Augen an die farblose Decke. Die unteren Gliedmaßen des Mannes waren verrenkt, als sei sein Todeskampf fürchterlich gewesen. Auf seinem starren Gesicht war ein Ausdruck des Grauens festgefroren, und, so schien es mir, des Hasses - eines Hasses, wie ich ihn nie zuvor in menschlichen Zügen gesehen hatte."

London, 1881. Düster der Tag, scheußlich die Leiche - es ist die erste, die das berühmteste Detektiv-Paar aller Zeiten findet: Dr. Watson und Sherlock Holmes, der Pfeife rauchende Exzentriker mit dem kühlen Blick für die Spurenlage. "Das gesprenkelte Band", "Der blaue Karfunkel", "Der Hund von Baskerville" - das sind Klassiker der Kriminalliteratur. Der Directmedia-Verlag hat nun sämtliche Fälle des genialen Ermittlers auf eine CD-Rom gepresst: 56 Erzählungen und die vier großen Sherlock-Holmes-Romane auf Englisch und in hervorragender deutscher Übersetzung.

"Die Erscheinung von Mr. Holmes allein genügte, die Aufmerksamkeit des oberflächlichsten Beobachters zu erregen. Er war mehr als sechs Fuß groß und so ungeheuer hager, dass er noch weit größer wirkte. Seine Augen waren scharf und durchdringend und seine falkenhafte Nase verlieh ihm den Ausdruck der Wachsamkeit und Entschlossenheit. Unweigerlich waren seine Hände mit Tinte beschmiert und von Chemikalien befleckt, und doch besaß er ein außerordentliches Fingerspitzengefühl. "

Dass dieser Detektiv einmal Kultstatus erlangen sollten, ahnte sein Schöpfer Arthur Conan Doyle anfangs nicht - und ein Blick in die neue, digitale Gesamtausgabe zeigt: Das war auch nicht zu ahnen. Zwar lässt sich Doyles erster Holmes-Roman "Studie in Scharlachrot" wunderbar gruselig an. Der Detektiv umstreift die Leiche, blickt prüfend auf Blutspritzer und Fußabdrücke und schon weiß er:

"Der Mörder ist über sechs Fuß groß, im besten Alter, hat für seine Größe kleine Füße, trägt grobe Stiefel, die vorn viereckig enden, und hat eine Trichinopoly-Zigarre geraucht. Er hat ein blühendes Aussehen, und die Fingernägel seiner rechten Hand sind bemerkenswert lang. "

Die ermittelnden Polizisten von Scotland Yard sind sprachlos. Das zu lesen macht auf der neuen Silberscheibe ebenso viel Spaß wie in einem Buch - zumal sich die Macher der digitalen Sherlock-Holmes-Ausgabe alle Mühe gegeben haben, den Bildschirm wie einen alten Schmöker erscheinen zu lassen. Da ist man gern dabei, wenn Meisterdetektiv Holmes den Übeltäter zur Strecke bringt - doch dann wird der Schrecken noch größer:

"In der Mitte des großen nordamerikanischen Kontinents liegt eine trockene und abstoßende Wüste. Sie erstreckt sich von der Sierra Nevada bis Nebraska und vom Yellowstone River im Norden bis zum Colorado im Süden. Es gibt dort schnell strömende Flüsse, die durch schroffe Canyons tosen, und ungeheure Ebenen, die im Winter weiß sind von Schnee und im Sommer grau vom salzigen Alkalistaub. "

Der Sherlock-Holmes-Erstling "Studie in Scharlachrot" hat einen zweiten Teil, der spielt irgendwo in Amerika zwischen Mormonen und Indianern und hat nichts, aber auch gar nichts mit Sherlock Holmes zu tun. Schön lässt sich auf der neuen Silberscheibe nachverfolgen, wie Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle das Schreiben lernt - und beim ersten Roman war er noch überfordert.

Die neue CD-ROM überfordert ihre Nutzer nicht: Die Software ist mit wenigen Mausklicken installiert, in Sekundenbruchteilen kann man den gesamten Textbestand per Suchfunktion nach interessanten Themen durchforsten, Textstellen lassen sich mit einem digitalen Filzstift leicht markieren.

Die zweite Holmes-Novelle heißt "Im Zeichen der Vier" - da hat sich der Autor warm geschrieben. Spannend entfaltet sich die Story um den tödlichen Schatz. Der Autor schickt uns nicht länger in die Sierra Nevada, sondern bietet ein grandioses Finale auf der Themse - Action pur.

"Dumpf lief der Dampfkahn auf das schlammige Ufer auf, sein Bug erhob sich in die Luft, und das Heck senkte sich zum Wasserspiegel. Der Mann versuchte zu fliehen und sprang hinaus, doch sein Holzstumpf versank sogleich im aufgeweichten Boden. All sein Winden und Zappeln war vergeblich. Nicht einen einzigen Schritt vor- oder rückwärts konnte er tun. Voll ohnmächtiger Wut brüllte er auf und stampfte mit dem anderen Fuß wie rasend in den Morast. "

So erfolgreich die Sherlock-Holmes-Geschichten waren - Autor Doyle sah sein sonstiges literarisches Schaffen von diesem Helden in den Schatten gestellt. Je weiter man in den Holmes-Geschichten auf der CD-Rom voranschreitet, umso düsterer wird der Detektiv - er kokst und zeigt manisch-depressive Züge. Schließlich muss er sogar sterben - sein Schöpfer konnte ihn nicht mehr ertragen. Wütende Leser attackierten den Autor damals auf offener Straße, die Verleger tobten. Etwas Geld half nach: 1902 erschien "Der Hund von Baskerville", die wohl beste Holmes-Geschichte, auch sie ist auf der neuen CD-Rom vertreten. Arthur Conan Doyle aber grämte sich, plante den nächsten Mord an seinem zählebigen Helden:

"Ich fürchte, dass es Mr. Sherlock Holmes wie einem jener beliebten Tenöre ergehen wird, die, obschon ihre Zeit vorbei ist, immer wieder in Versuchung geraten, ihrem nachsichtigen Publikum noch eine allerletzte Abschiedsvorstellung zu geben. Doch einmal muss er den Weg allen Fleisches gehen, einerlei ob real oder erfunden!"

Abschied nehmen? Erst einmal ist Meisterdetektiv Sherlock Holmes digital neu auferstanden - unverwüstlich und faszinierend wie am ersten Tag.


Sherlock Holmes - Sämtliche Romane und Erzählungen
Englisch und Deutsch
Directmedia Berlin 2005,
Digitale Bibliothek Band 129