Briefe wie ein Bildungsroman

05.06.2007
Nicolas Born ist früh gestorben, im Dezember 1979 mit 42 Jahren. Doch nicht nur deshalb ist er zum Mythos geworden. Sein Gedichtband "Das Auge des Entdeckers" von 1972 brachte es auf eine verkaufte Auflage von 8000 Exemplaren, da schien ein tieferer Nerv getroffen worden zu sein, und sein Roman "Die erdabgewandte Seite der Geschichte" von 1976 gilt als Schlüsselwerk für die "Neue Subjektivität" jener Zeit, die aus einer radikalen Politisierung hervorgegangen war.
Jetzt, 25 Jahre nach Borns Tod, gibt seine Tochter Katharina eine Werkausgabe heraus. Deren zweiter Band mit bisher unbekannten Briefen dieses Autors verheißt aufschlussreiche Einblicke in etwas, was man die Fußstapfen nennen könnte, in denen sich die aktuelle Gegenwartsliteratur bewegt.

Es handelt sich vielleicht um die letzte Phase, in der Briefe noch eine gewisse Rolle spielten. Das Telefon, man ahnt es oft in den Lücken von Borns Briefwechseln, war schon ein wichtiges Instrument zur Verständigung, aber wenn es ernst wurde, etwa bei längeren Auslandsaufenthalten, diente der Brief noch als selbstverständliches Mittel der Reflexion.

Die Briefe beginnen mit einem werbenden Schreiben des zweiundzwanzigjährigen Born an Ernst Meister, den zurückgezogenen Lyriker aus Hagen in Westfalen, der noch mehr als Celan als Inbegriff des "Hermetischen" und schwer Verständlichen galt. Ein Brief an Celan in Paris folgte sogleich: das also war die Form von Lyrik, die dem jungen Born vorschwebte, einem Chemigraphen aus Essen ohne Hochschulausbildung. Im Gegensatz zu Celan antwortete der in der Nähe wohnende und eher unbekannte Meister sofort, und es kam zu etlichen Besuchen, die erst dann seltener wurden, als Born nach Berlin aufbrach und selbst im Literaturbetrieb mitmischte.

Dennoch schließt sich der Kreis: Born wurde im Lauf der siebziger Jahre ein einflussreicher Multiplikator im literarischen Gespräch, und als Mitglied der Jury des Petrarca-Preises setzte er 1977 tatsächlich durch, dass Ernst Meister diesen Preis verliehen bekam - eine menschlich anrührende, aber literarisch durchaus fundierte Erinnerung an das einstige Lehrer-Schüler-Verhältnis. Und es ist atmosphärisch durchaus reizvoll, wie der junge Born dem windgeschützten Ernst Meister früh seine Faszination durch die amerikanische Beatlyrik zu erklären versucht, allerdings noch ein bisschen existenzialistisch verhaucht.

Ernst Meister verschaffte Born auch die Einladung zur ersten Schreibwerkstatt 1963 im "Literarischen Colloquium Berlin". Sie veränderte schlagartig Borns Leben. Hier lernte er mit Hermann Peter Piwitt und Hans Christoph Buch bleibende Freunde kennen, hier erwarb er sich die Meriten, um sofort zur Tagung der Gruppe 47 in Sigtuna 1964 eingeladen zu werden, hier wurde es klar, dass er die Existenz des freien Schriftstellers ansteuern wollte, am besten in Berlin, und den Brotberuf wie auch die in sehr normierten Bahnen verlaufende Ehe hinter sich ließ.

Das war tatsächlich noch ein klassischer Bildungs- und Entwicklungsroman, und im Ton der Briefe kann man die einzelnen Stufen recht genau verfolgen. Nach einem ersten Teil mit chronologisch abgedruckten Briefen Borns versammelt ein zweiter Teil die zentralen Briefwechsel mit den Antworten: von Hermann Peter Piwitt, F. C. Delius, Peter Handke, Jürgen Theobaldy und Günter Kunert. Hier ist die generationsspezifische Auseinandersetzung zwischen Politik und Poesie hautnah zu studieren.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Nicolas Born: Briefe 1959-1979
hrsg. von Katharina Born
Wallstein Verlag, Göttingen 2007
550 S.