Brie: Linke soll rechtes Protestpotenzial einbinden

Im Gespräch mit Peter Lange und Ulrich Ziegler · 29.09.2007
Der Europaabgeordnete der Partei Die Linke, André Brie, sieht seine Partei in der Verantwortung, auch rechtes Protestpotenzial einzubinden. Die Linke und die NPD seien beides Protestparteien, deshalb sei es wichtig, sich klar gegen die Rechtsextremen abzugrenzen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Brie, der verstorbene SPD-Politiker Peter Glotz hat Sie als damaligen Chefstrategen der PDS mal mit dem CDU-Politiker Heiner Geißler verglichen und von Ihnen als von dem "Geißler der PDS" gesprochen. Sind Sie auch schon Attac beigetreten?

André Brie:: Nein, ich bin nicht Attac beigetreten. Aber ich unterstütze sie und glaube, dass Attac eine der großen Organisationen ist für zukünftige Auseinandersetzungen.

Deutschlandradio Kultur: Ihre Partei hat sich vor wenigen Wochen vereint, nennt sich jetzt: Die Linke. Es gibt aber einige Intellektuelle, die beispielsweise jetzt in der Zeitschrift Cicero schreiben, dass dieses Schema links-rechts schon längst überholt ist. Ist das eine Diskussion von gestern, links-rechts zu diskutieren?

André Brie:: Meiner Meinung nach nicht. Natürlich, wenn man die Maßstäbe und Inhalte der Vergangenheit anlegen würde, das wäre fatal. Aber zum einen haben wir aus meiner Sicht eine Gesellschaft, die nicht nur in sehr gefährlicher Weise erneut sozial gespalten wird, sondern, was für mich noch problematischer ist, die Gesellschaft findet sich damit ab, vor allen Dingen der Mainstream findet sich damit ab.
Einer der Gründe für die Bildung einer neuen Partei war, dass zunehmend Menschen ins Nichtwählerlager gegangen sind, von der SPD oder auch von den Grünen nicht mehr erreicht wurden, auch von der früheren PDS nicht erreicht wurden. Diese Menschen brauchen Antworten aus ihrer Sicht, von unten, von den Ausgegrenzten her. Das ist links.

Deutschlandradio Kultur: Die Antworten können Sie und Ihre Partei geben?

André Brie:: Die Antworten müssen wir geben. Wir stehen erst am Anfang. Wir nehmen diesen Standpunkt ein. Die Antworten selbst fehlen vielfach noch.

Deutschlandradio Kultur: Links ist also lediglich, sich für die Entrechteten und Unterprivilegierten einzusetzen? Mehr nicht?

André Brie:: Links ist viel, viel mehr.

Deutschlandradio Kultur: Was sind denn drei Kernbereiche oder Kernpunkte, von denen Sie sagen würden, das exakt macht links aus?

André Brie:: Zum einen von den Ausgegrenzten ausgehen, zweitens sich wirklich für Gesellschaftlichkeit einzusetzen, gegen gesellschaftliche Kälte, dafür, dass Staat - ohne in den alten Etatismus zu verfallen -, also vor allen Dingen Gesellschaft sich gegenüber der Wirtschaft, gegenüber der gesamten Entwicklungsrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft durchsetzen kann. Und drittens denke ich, dass links ein unbeirrbares Streben hat, sich mit Krieg nicht abzufinden.

Deutschlandradio Kultur: Ihre Partei ist im Moment so aufgestellt, man kann das auch nachlesen: Sie ist gegen kriegerische Mittel in der Außenpolitik, gegen den Abbau demokratischer Rechte, gegen Hartz IV, gegen die Rente mit 67. Das hört sich nicht nach einer Partei an, die nach vorne blickt, sondern nach einer Partei, die eine Protestpartei ist und sich damit auch irgendwie wohl fühlt.

André Brie:: Das ist sicherlich ein Problem. Wir müssen wirklich gemeinsam an einem neuen Programm arbeiten. Wenn wir das nicht lösen, wenn wir nur Protest ausdrücken, wenn wir nur populistisch sind, dann wird diese Partei auch keine Zukunft haben. Die Fragen, die wir ansprechen, wo wir Protest haben, müssen - auch um eindeutig gegen über zum Beispiel der NPD unterscheidbar zu sein, die ja auch einen Protest artikuliert und missbraucht - mit realistischen Alternativen verbunden werden.

Deutschlandradio Kultur: Ich sehe das also richtig, dass Sie sozusagen eine staatspolitische Aufgabe Ihrer Partei sehen, ein Protestpotenzial parlamentarisch zu binden, was vielleicht sonst irgendwohin weg driftet?

André Brie:: Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, auch eine Verantwortung, damit das Potenzial, das ja wirklich nicht gering ist, nicht nach rechts geht. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, aber es ist nur eine.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eine Vision von dieser Partei, was sie erreichen soll, wie sie sich programmatisch aufstellen soll. Andererseits haben sie eine vorgefundene Mitgliedschaft, von der sich die eine Hälfte vielleicht so etwas wie eine runderneuerte DDR wünscht und die andere Hälfte sich in die kuschelige 70er-Jahre-Ecke der Bundesrepublik zurückwünscht. Wie macht man mit so einer Mitgliedschaft Staat?

André Brie:: Ich glaube, das ist sehr, sehr verkürzt. Weder die alte PDS und das Gros ihrer Mitgliedschaft wünscht sich eine erneuerte DDR. Da mag es ein paar Nostalgiker geben, aber es ist auch dort die Minderheit. Natürlich sind wir sehr, sehr heterogen. Und es gibt einen starken Ostbezug, der manchmal sehr hinderlich ist, wo es in der Tat auch teilweise rückwärtsgewandte Dinge gibt. Umgekehrt sind aus der WASG sehr, sehr viele Menschen gekommen, die sich vor allen Dingen an den alten Sozialstaatsmodellen der 70er-Jahre orientieren.

Wir wollen soziale Gerechtigkeit. Wir können das als linke Partei nicht aufgeben. Aber wir brauchen völlig neue Konzepte - auf fast allen Gebieten. Daran mangelt es uns. Aber ich glaube, das größere Problem ist wirklich diese Heterogenität. Wir sind noch nicht zusammengewachsen. Wir haben kulturelle Unterschiede innerhalb dieser Partei zwischen Ost und West.

Und weit darüber hinaus haben wir eben eine Zersplitterung in sehr, sehr unterschiedliche Richtungen und eine - vor allem in Westdeutschland - viel zu geringe soziale und kulturelle Verankerung. Das wird ein jahrelanger Prozess sein, um das überhaupt zu erreichen, wo dann auch die Impulse aus der Gesellschaft stärker in die Partei kommen können.

Vor allen Dingen aber denke ich, dass wir zur Zeit viel zu wenig Streitkultur haben, eine Scheu vor Streit, das ist übrigens auch ein altes Problem der PDS gewesen, und davor, in der Öffentlichkeit zu streiten.

Deutschlandradio Kultur: Aber Herr Brie, lohnt sich denn dann der ganze Aufwand, dieser Zusammenschluss von Leuten, die möglicherweise von ihren Biographien, von ihren politischen Vorstellungen her betrachtet, sehr wenig gemein haben? Wächst da wirklich irgendwas zusammen, was irgendwie zusammengehören soll? Oder wäre es nicht ehrlicher zu sagen, dieses Projekt müssen wir begradigen, vielleicht sollten wir es sogar aufgeben?

André Brie:: Die Linke hat sich in der Vergangenheit über Zellteilung vermehrt. Sie hat sich ideologisch orientiert. Einheit, Reinheit, Geschlossenheit war ja nicht nur in der SED der Gesichtspunkt. Das war in fast allen linken Strömungen auch in der alten Bundesrepublik so. Wir versuchen zum ersten Mal eine Linke aufzubauen, die wirklich pluralistisch ist, die nicht fragt, wer hat recht, sondern die fragt: Was wollen wir gemeinsam?

Das ist schon eine Basis, um das zu machen. Ich sehe ja, mit welcher Aufmerksamkeit das in anderen Ländern gesehen wird. Das steht für mich im Vordergrund. Die Probleme - das glaube ich aus meiner Sicht - sind lösbar.

Deutschlandradio Kultur: Aber gerade die westdeutschen Linken waren ja zu einem guten Teil bei den Grünen untergeschlüpft und haben sich da wieder getrennt, als sich herausstellte, dass die nicht die reine Lehre vertreten konnte, wenn sie politikfähig werden wollte. Haben Sie so einen Prozess nicht auch vor sich, dass Sie diese - sagen wir - Sektierergruppen irgendwann wieder ausschwitzen müssen?

André Brie:: Diesen Prozess haben wir in der PDS auch gehabt. Das sind Leute, die waren mal zu den Jusos gegangen. Dann sind sie zu den Grünen gegangen. Dann dachten Sie, dass die PDS ihr Tummelplatz sein kann. Das werden wir in dieser neuen Partei auch erleben. Ich denke, hier sind Lernprozesse vonnöten, auf allen Seiten. Und wer diesen Lernprozess nicht mitgehen kann, der wird, wenn er bei den Grünen nicht zufrieden war, dann auch mit uns nicht zufrieden sein.

Deutschlandradio Kultur: Sie reden viel von Lernen, Mängeln, Aufarbeitung, von dem, was man machen muss innerhalb der Linken. Was nicht deutlich rauskommt: Wohin soll die Linke in Deutschland gegen? Und weshalb brauchen wir sie überhaupt?

André Brie:: Wir brauchen Sie zum einen, weil wir wirklich eine prinzipielle Veränderung haben. Wir haben seit zwei Jahrzehnten ungefähr eine Zäsur in dieser Gesellschaft. Man sagt immer Neoliberalismus, Marktorientierung. Ich habe selbst mit linken Sozialdemokraten diskutiert, die mir sagen, es ist gut, dass es kein Primat der Politik mehr gibt.

Deutschlandradio Kultur: Die öffentliche Diskussion ändert sich aber im Moment.

André Brie:: Für die Linke muss es ein Primat der Politik geben. Sie kann nicht zur alten Staatswirtschaft zurückgehen. Sie will auch nicht die alte Planwirtschaft, aber sie will, dass Wirtschaft kein Selbstzweck ist, sondern dass wir damit soziale, ökologische, kulturelle Ziele in dieser Gesellschaft erreichen können. Zweiter Gesichtspunkt: Es kann sich keine Gesellschaft damit abfinden, dass Millionen Menschen ausgegrenzt sind und auch aus dem Parteiensystem ausgegrenzt sind. Das Dritte: Wir werden hochmoderne zeitgemäße Fragen vorfinden, die Themen für die Linken sind.
Zusammenzubringen sind Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft, die Auflösung alter sozialer Milieus, aber gleichzeitig Solidarität aufrecht zu erhalten und sie wieder in die Gesellschaft einzubringen. Das ist die Aufgabe, die wir zu lösen haben. Wir lösen sie zurzeit mit unserem Protest. Wir lösen sie zurzeit auch mit allgemeinen Forderungen. Was völlig aussteht, da wird sich auch die Zukunft dieser Partei entscheiden - ich sage ja nicht, dass die gesichert ist:

Wir müssen heute auch zu gesellschaftlicher Bewegung wieder beitragen. Eine Gesellschaft, die sich nicht bewegt, wo die Menschen nur glauben, die Politiker machen es entweder falsch oder machen es richtig, und sich nicht selbst einbringen, wird diese Probleme nicht lösen. Und wir müssen das geistig-kulturelle Klima in dieser Gesellschaft ändern, wozu meine Partei bisher viel, viel zu wenig beiträgt.

Deutschlandradio Kultur: Aber hat denn die Linkspartei auch eine Idee von einem Begriff von Aufklärung, Emanzipation, von Freiheit, der für andere als die Benachteiligten auch attraktiv ist?

André Brie:: Für viele in der Linkspartei, anders als, wie ich glaube, in anderen Teilen zu beobachten ist, ist die Tradition der Aufklärung unaufgebbar. Das sind ja sehr, sehr heftige Auseinandersetzungen in der alten PDS gewesen, Emanzipation wirklich zu begreifen. Ich kann mich noch erinnern, wie banal die Diskussionen zum Teil waren, weil man in der alten SED Emanzipation nur als Frauengleichstellung betrachtet und nicht begriffen hat, dass es hier wirklich um gesellschaftliche Freiheit und individuelle Freiheit geht.
Ja, diese Debatte findet statt. Wir stoßen da auf Hindernisse, aber ich bin zuversichtlich.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, die Partei soll sich weiterentwickeln. Nehmen wir mal die bundespolitische Verantwortung: Auslandseinsätze der Bundeswehr, Afghanistan. Ihre Partei verweigert sich da im Moment absolut und sagt: Bundeswehr raus und dann schauen wir, was dann passiert. Uns kümmert das nicht.

André Brie:: In dieser Form, wie Sie es beschreiben, ist es eindeutig nicht verantwortlich. Aber zum einen ist in Afghanistan auch militärisch alles schief gegangen. Die Möglichkeit, die wahrscheinlich 2002/ 2003 bestanden haben, ich war mehrfach in Afghanistan, ich bin Berichterstatter des Parlaments für Afghanistan gewesen und ich bin es wieder, sind weitgehend zerstört worden. Die internationalen Truppen spielen zurzeit keine gute und auch keine erfolgreiche Rolle. Woran es uns mangelt, ist, zu sagen, was ist wirklich die Alternative.

Allein der Rückzug ist nicht verantwortlich und auch nicht ausreichend, zumal gerade eine Linke, die SED, aber auch viele andere linke Parteien, den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan gerechtfertigt haben. Heute zu sagen, wir sind Pazifisten, ohne sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, geht nicht. Die Sowjetunion hat dieses Land zerstört und sie hat dort grauenhafte Kriegsverbrechen begangen. Wenn es um Abzug geht, muss es Alternativen geben.

Deutschlandradio Kultur: Aber so weit ist Ihre Partei nicht.

André Brie:: Aber diese Debatte hat in meiner Partei in den letzten Wochen sehr intensiv begonnen.

Deutschlandradio Kultur: Bei der Innenpolitik ist der Kernpunkt: Weg mit Hartz IV. Geht es wirklich darum Hartz IV abzuschaffen, das ja immerhin auch dazu geführt hat, dass Millionen Sozialhilfeempfänger mal wieder wahrgenommen worden sind und zumindest ein Bemühen da ist, die wieder irgendwo zu integrieren? Oder geht es um Veränderungen von Hartz IV?

André Brie:: Es geht schon um Abschaffung von Hartz IV, ohne das, was Sie positiv beschreiben, dabei zu beseitigen. Hartz IV ist für Menschen demütigend. Hartz IV bedeutet eine extreme Abhängigkeit. Hartz IV ist auch in materieller Hinsicht nicht akzeptabel.

Was gar nicht diskutiert wird, ich glaube, nicht mal in meinen Kreisen ernsthaft diskutiert wird, ist, was die langfristigen Folgen von Hartz IV sind. Es wird Lebensbiographien prägen. Die Kinder wachsen als Hartz-IV-Kinder auf und landen letzten Endes dann in Altersarmut. Das ist das, was ich eben als soziale Spaltung beschreibe, die hier eintritt. Das muss überwunden werden.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Rückkehr zum Status quo ante bedeutet: dritte Generation Sozialhilfeempfänger, das Gleiche mit einer anderen Bezeichnung. Das Ziel war, die Leute da rauszuholen.

André Brie:: Ja, wir haben uns auch vor Hartz IV mit den alten Systemen heftig auseinandergesetzt und waren mit ihnen nicht einverstanden.

Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise gibt es dann Aussagen, beispielsweise von Ihrem Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, die gehen in eine etwas andere Richtung. Der sagt zum 100-tägigen Jubiläum der Gründung der Linken Folgendes: "Wenn die Rente mit 67 und Hartz IV rückgängig gemacht werden und die Deutschen aus Afghanistan abziehen, dann wäre es gar nicht so schlimm, wenn wir überflüssig werden."

André Brie:: Zumindest spricht er damit das eigentlich entscheidende Thema an. Nachdem Oskar Lafontaine diese vier Mindestforderungen an die SPD gestellt hat, stellt sich tatsächlich die Frage: Wenn die SPD das aufgreift, gibt es dann noch eine Perspektive und eine Notwendigkeit für diese Partei? Oder verschwindet man dann in einer Regierungskoalition, weil man vielleicht 8 Euro Mindestlohn fordert und die SPD 7,50 Euro Mindestlohn? Damit hat man keine Existenzberechtigung.

Die eigentliche Frage ist ja: Wo ist das darüber hinausgehende Profil dieser Partei? Die SPD bekennt sich neuerdings auch wieder zum demokratischen Sozialismus. Was unterscheidet uns in unserem Verständnis des demokratischen Sozialismus? Wie sind unsere beschäftigungs-, wirtschaftspolitischen, ökologischen Vorstellungen, die darüber hinausgehen? Und wie ist das Profil dieser Partei, das ja über so abstrakte Programmatik von den Menschen wirklich wahrgenommen wird? Wir werden zurzeit als Protestpartei wahrgenommen. Das ist unser Plus.

Deutschlandradio Kultur: und auch ein Mangel.

André Brie:: .. und unser Mangel.

Deutschlandradio Kultur: Und das Glück, dass Sie noch nicht in die Regierungsverantwortung gezwungen werden.

André Brie:: Das ist ein großes Glück. Wir brauchen noch Zeit.

Deutschlandradio Kultur: Und die Zeit hilft beispielsweise Oskar Lafontaine in der programmatischen Weiterentwicklung? Oder stört er eher?

André Brie:: Ohne Oskar Lafontaine hätte es diese Partei nicht gegeben und die Akzeptanz in Westdeutschland schon gar nicht. Jüngste Umfrage im Saarland: 18 Prozent. Ich glaube, dass Oskar Lafontaine - mir oft auch suspekt - mit seinem Entscheidungswillen etwas einbringt, was der alten PDS oft genug gemangelt hat. Lothar Bisky ist ein fantastischer Parteivorsitzender, aber Entscheidungen hat er nie vorangedrängt.

Und dann gibt es natürlich auch Probleme, die ausgetragen werden müssen. Gott sein Dank ist die Linkspartei eine andere Partei als die SPD, aus der Oskar Lafontaine kommt, in der er Wahlprogramme in Minuten auf Parteitagen einstimmig durchdrücken konnte.

Deutschlandradio Kultur: Aber im Moment sieht es doch eher so aus, als wäre Lafontaine so eine Art Warlord, der die Linke als Instrument und Waffe benutzt, um die SPD kaputtzumachen.

André Brie:: Ich kann nicht in den Kopf von Oskar Lafontaine hineinschauen. Diese vier Mindestforderungen, die er vor wenigen Monaten aufgestellt hat, habe ich verstanden als eine Veränderung seiner Strategie, natürlich als Druckmittel gegenüber der SPD, aber auch als Ausdruck dafür, dass er sich bewusst ist, dass das, was in dieser Gesellschaft zumindest möglich ist, eine Mehrheit, eine strukturelle und kulturelle Mehrheit jenseits von CDU-CSU und FDP erschlossen werden muss. Da werden wir sogar unter Zeitdruck sein. Ich glaube nicht, dass 2009 bei den Bundestagswahlen ein Bündnis, eine Koalition Linkspartei-SPD-Grüne möglich ist.

Deutschlandradio Kultur: Mit ihm sowieso nicht.

André Brie:: Die SPD tut sich da natürlich sehr schwer, aber das finde ich dann auch kleinkariert. Aber es muss schon für 2009 von uns alles getan werden. Wir müssen auch unsere Hausaufgaben machen, eben mit realisierbaren Konzepten und aus Eigeninteresse ein Profil, das auch in der Koalition bestehen könnte, damit das überhaupt denkbar wird, damit die SPD nicht eine ziemlich feige Ausrede bekommt.

Wir können nicht sagen, wir machen hier eine schöne Opposition und damit begnügen wir uns. Und dann erreichen wir mal 15 Prozent, aber wir tun nichts, um das umzusetzen. Wir haben nur ein Leben. Die wollen, dass in relativ kurzer Zeit in der Politik was verändert wird. Dazu muss von uns auch Regierungsfähigkeit entwickelt werden.

Deutschlandradio Kultur: Man muss natürlich immer antizipieren, wie weit kann sich der potenzielle Partner bewegen. Da sage ich mal, die SPD kann über eine Reform von Hartz IV, über eine Weiterentwicklung von Hartz IV reden, aber nicht über die Abschaffung. Sie können in Afghanistan die zivile Komponente stärken, sie werden nie für einen Abzug sein. Das sind doch zwei Dinge, die auf jeden Fall nicht zusammengehen.

André Brie:: Es kommt schon darauf an, was eine Reform von Hartz IV bedeuten würde, wie weit sie geht, ob sie mit einer anderen Wirtschafts- und Arbeitsplatzpolitik gekoppelt ist. Was Afghanistan betrifft, das ist wahrscheinlich das heikelste und schwierigste Problem überhaupt. Ich habe auch keine Antwort darauf. Ich weiß, dass es mit den Truppen nicht geht.

Die Akzeptanz der Truppen nimmt in weiten Teilen, und zwar in entscheidenden Teilen Afghanistans sehr, sehr gefährlich ab. Ein sofortiger und bedingungsloser Abzug würde allerdings dieses Land, das jetzt schon 30 Jahre Krieg hat, endgültig in ein neues Chaos stürzen. Das ist für mich unverantwortlich.

Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal kurz auf Personalpolitik zurückkommen, denn Politik vermittelt sich über Personen. Andrea Nahles, die zukünftig starke linke Frau der SPD, hat vor kurzem gesagt, sie könne sich das überhaupt nicht vorstellen, mit Oskar Lafontaine zusammenzuarbeiten, dann eher noch mit Guido Westerwelle.

Dann stellt sich irgendwann auch die Personalfrage. Wie lange kann Oskar Lafontaine an der Partei noch vorne stehen, wenn mit der SPD zusammengearbeitet werden soll, und wer kann ihm folgen?

André Brie:: Ich bin persönlich der Meinung, dass Oskar Lafontaine und Lothar Bisky noch beträchtlich länger an der Spitze dieser Partei stehen müssen, als sie selbst es zur Zeit verkünden oder planen - mangels Persönlichkeiten. Der Erfolg dieses ganzen Projekts hat sehr maßgeblich mit den Figuren Gysi, Bisky und Lafontaine zu tun.

Das ist neben allen programmatischen Defiziten, neben allen strukturellen Problemen, dass wir eben gerade in den alten Bundesländern ungenügend verankert sind, eine wirklich sehr, sehr ernste Gefahr, dass wir damit Erkennbarkeit, Sinnlichkeit für Menschen verlieren würden. Deswegen, soweit ich das kann, setze ich mich dafür ein, dass dieser Zeithorizont, den die beiden vorgegeben haben, 2009, revidiert wird.

Was die SPD betrifft, wir werden alle in ziemlich saure Äpfel beißen müssen und die personelle Seite muss da wirklich die unwichtigste sein, so viele Wunden die sie sich auch gegenseitig geschlagen haben.

Deutschlandradio Kultur: Also, nicht Wandel durch Annäherung, sondern Annäherung durch Wandel.

André Brie:: Annäherung durch Wandel, ja, das wäre ein gutes Konzept.

Deutschlandradio Kultur: Bis hin zur Verschmelzung?

André Brie:: Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Das ist auch nicht mehr diese Gesellschaft, die große Einheitsparteien für bestimmte soziale Strömungen hat. Diese Gesellschaft ist sozial und kulturell viel heterogener als in vergangenen Jahrzehnten oder im vergangenen Jahrhundert. Sie haben diese Ausdifferenzierung. Deswegen wird eine einzige linke soziale Partei das auch nicht mehr abdecken können.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind sicher, dass die Linkspartei nicht den Weg der USPD gehen wird?

André Brie:: Das bin ich sicher, weil es auch keine kommunistische Internationale mehr gibt, die Aufnahmebedingungen, Ausschlüsse und ähnliches praktiziert, um die USPD klein zu kriegen.

Deutschlandradio Kultur: Wir möchten noch ein paar persönliche Fragen an Sie stellen, weil gemeinhin bekannt ist, dass Sie in den 90er Jahren wirklich stark innerhalb der PDS als Vordenker gearbeitet haben. Dann sind Sie ins Europäische Parlament gegangen.

Vielleicht liegt der Grund auch darin, dass Sie eben 20 Jahre lang zu DDR-Zeiten für die Stasi als inoffizieller Mitarbeiter tätig waren. Warum ist es Ihnen nicht so passiert, wie manch anderen, warum haben Sie zur Wendezeit nicht den Weg zu den Bürgerrechtlern gefunden? Als kritischer Kopf, der Sie sind und als der Sie sich ja auch definieren?

André Brie:: Ich hatte zur Wendezeit sehr viele Kontakte mit Bürgerrechtlern. Ich hatte sie zu DDR-Zeiten nicht. Das sind sehr unterschiedliche Kulturen, in denen wir aufgewachsen sind. Ich komme aus einem kommunistischen, mein Vater auch jüdischem Elternhaus. Ich bin ganz anders geprägt. Die meisten Bürgerrechtler sind doch bürgerlich geprägt, soweit das in der DDR der Fall war. Das war mir kulturell ziemlich fremd. Es gab auch keine Berührungspunkte.

In der Wendezeit gab es sehr, sehr viel Zusammenarbeit, aber erstens habe ich mich trotz des Einschnittes immer als Sozialist verstanden, und zweitens habe ich diese andere Kultur auch nicht annehmen können.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind 20 Jahre lang mit dem System der DDR verbunden gewesen, sind, wenn man das so sagen darf, besonders mit dem Strom geschwommen. Heute sind Sie mehr der Querdenker, der gegen den Stachel löckt. Besteht da ein Zusammenhang?

André Brie:: Da besteht bestimmt ein Zusammenhang. Es ist ein Teil Schuld, den ich nach wie vor in mir fühle, an der ich arbeite. Das ist eine bleibende Aufgabe. Da habe ich keine Illusion. Das ist mein eigenes Erleben. Es ist aber auch sehr stark Erfahrung, was eben nicht geht, was schief gegangen ist, was diese DDR zugrunde gerichtet hat, worin ihre wirklich ganz grundsätzlichen Schwächen, Fehler und ihre verbrecherische Seite bestanden haben.

Ich habe trotz der Zusammenarbeit mit Stasi auch zu DDR-Zeiten kritische Dinge verfolgt, nicht nur als Kabarettautor, sondern auch auf gesellschaftspolitischem Gebiet, aber immer mit der Feigheit. Wenn es zum Bruch hätte kommen können, habe ich gekuscht. Ich dachte immer nur, es geht, innerhalb dieses Systems, innerhalb der SED etwas zu verändern, was ich für notwendig gehalten habe.

Das habe ich spätestens dann mit der Wende sehr schmerzlich begreifen müssen, dass man sich selbst diese Fessel nicht anlegen darf und gerade als Intellektueller die Pflicht hat, gegen den Stachel zu löcken und seine Überzeugungen, auch wenn es weh tut oder persönlichen Schaden bedeutet, zu vertreten.

Deutschlandradio Kultur: Der Preis dieser Freiheit ist, dass - siehe Heiner Geißler - einem dann am Ende keiner mehr so richtig zuhört. Leiden Sie manchmal unter Ihrer Machtlosigkeit?

André Brie:: Ach, erstens hört man mir doch zu. Die Reaktionen auf mein Spiegel-Interview waren so vehement, da habe ich überhaupt nicht das Gefühl gehabt, dass man mir nicht zuhört.

Und - anders als noch vor wenigen Jahren, als ich ziemlich wehleidig war - ich finde inzwischen auch Gefallen an solchen Auseinandersetzungen. Es ist nicht nur etwas, was ich rational will und für notwendig halte, sondern wo ich wirklich erlebe, dass Freiheit auch eine sehr, sehr schöne Seite hat - im Meinungsstreit, im Aufprall von unterschiedlichen Positionen und im Kampf darum, wer die Mehrheit hat.

Deutschlandradio Kultur: Sollte Sie also die Partei morgen noch mal rufen und sagen, komm nach Berlin, lass uns noch mal richtig programmatisch die Partei weiterentwickeln, würden Sie kommen?

André Brie:: Ich bin sogar der Meinung, dass ich zu denen gehören muss, die an dem neuen Programm arbeiten. Das reklamiere ich. Und auf jeden Fall werde ich in die Diskussion auch ungewollt eingreifen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Brie, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.