Brexit und der jüdische Bundesbegriff

Was die EU von der jüdisch-politischen Tradition lernen kann

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Ein Demonstrant mit einer EU- und einer britischen Flagge über der Schulter.
Großbritannien und die EU könnten durch den jüdischen Bundesbegriff einiges lernen. © picture alliance / dpa / Sopa Images / Zuma Wire
Von Ludger Fittkau · 04.10.2019
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Wie sehr die jüdische Tradition und der jüdische Glaube die politische Tradition Europas, Demokratie und Rechtsstaat mitgeprägt haben, wird oft vergessen. Dabei könnte selbst Boris Johnson noch etwas aufgrund des jüdischen Bundesbegriffs lernen.
Die 57 Jahre alte Elisa Klapheck ist liberale Rabbinerin in Frankfurt am Main und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn. Sie versucht, eine lange Linie zu ziehen vom biblischen Bundesbegriff in der jüdisch-politischen Tradition zur heutigen Europäischen Union:
"Mir ist es wichtig, dass wir als Juden stärker unser politisches Erbe reklamieren. Dass wir also in Europa sehen, dass die politische Tradition der Demokratie, des Pluralismus, des Rechtsstaates ganz stark von der Bibel her, vom Alten Testament, von der jüdischen Tradition mitgeprägt sind."
Europäische Frühaufklärer seien dabei in gewisser Weise ein historisches Bindeglied gewesen, so Klapheck:
"Christliche, politisch interessierte Denker wie Thomas Hobbes und John Locke haben ab dem 16. oder 17. Jahrhundert die Bibel in Hebräisch gelesen. Die nannten sich Hebraisten und haben daraus politische Ideen abgeleitet. Das nannten sie dann Kontraktualismus- also Vertragstheorie. Und haben daraus zum Beispiel die Idee des Gesellschaftsvertrags abgeleitet. Und das ist, was wir heute sind: ein Gesellschaftsvertrag."
Elisa Klapheck ist bewusst, dass sich der Bundesschluss Gottes mit Menschen aus der hebräischen Bibel nicht auf moderne Staatenbünde des 21. Jahrhunderts übertragen lässt. Doch sie möchte die starke Bedeutung des Bundes in der jüdischen Tradition auch für heute fruchtbar machen:
"Selbstverständlich kann man das nicht von damals auf heute eins zu eins übertragen. Aber ich sehe Momente in der biblischen Bundesidee, Momente, die ich wiedererkenne in den heutigen Bundesfragen. Zum Beispiel, wenn einmal ein Bund geschlossen worden ist, für heilig deklariert worden ist, kann man da eigentlich nochmal raus?"

Warum Boris Johnson ein Populist ist

Die Frage aber, ob die Briten in der EU bleiben oder nicht, ist sicher keine Frage eines "heiligen Bundes". Das sieht auch Laura Cazés so. Die 29 Jahre alte Psychologin arbeitet in der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und war 2017 Kandidatin zum Präsidium der "European Union of Jewish Students". Vom starken jüdischen Bundesbegriff könnten aber Boris Johnson und die "Brexiteers" durchaus etwas lernen, so Laura Cazés:
"Bezogen darauf: Ist einmal ein Konzept einer Europäischen Union konstituiert, kann man das nicht einfach mal so über den Haufen werden. Denn hier geht es ja nicht darum, dass man sagt: Wir probieren das Mal aus, das ist 'Try and Error', dann lassen wir es wieder. Und deshalb ist ja diese Idee vom Brexit so populistisch. Die Behauptung, dass man sagen könnte: Na ja, wir haben das mal probiert mit der Europäischen Union. Hat uns nicht so gefallen. Also verbreiten wir Thesen, die widerlegen, dass das sinnvoll ist und dann steigen wir aus. So einfach ist das nicht, das sehen wir auch daran, wie brachial dieser Prozess jetzt verläuft."

Viele kennen nur die EU als ihre Heimat

Die EU ist für junge europäische Jüdinnen und Juden ein Raum mit vielen Freiheiten. Das machte im jüdisch-politischen Lehrhaus in Frankfurt am Main auch Dalia Grinfeld deutlich. Sie ist ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschland:
"Ich bin 1994 geboren, seitdem gab es quasi Europa auch schon. Das heißt, ich kenne es nicht mehr, meinen Pass mitnehmen zu müssen, wenn ich in ein anderes EU-Land fliege. Ich kenne quasi nur noch den Euro, auch wenn mein erstes Taschengeld in D-Mark war. Aber ich kenne eben Europa. Und ich glaube, wir als junge Generation nehmen das auch einfach selbstverständlich. Und das ist auch ein Problem, dass wir nicht wertschätzen, was diese europäische Friedensgemeinschaft, Wertegemeinschaft und auch Währungsgemeinschaft bedeutet."

Jüdisch ist nicht gleich europäisch

Allerdings trennt Dalia Grinfeld – anders als die Rabbinerin Elisa Klapheck – in Sachen EU ihre religiöse Identität klar von der politischen Prägung:
"Also ich bin einerseits absolut gerne jüdisch, absolut gerne deutsch und auch absolut gerne Europäerin. Und all diese Dinge sind Teile meiner Identität und da kommen auch noch andere Teile hinzu. Aber ich glaube, dass ich Europäerin nicht unbedingt bin, weil ich jüdisch bin. Oder von meinem Verständnis von mir selbst als Europäerin, das kommt nicht aus meinen jüdischen Werten heraus. Auch wenn ich das schön finden würde, ist das halt eher aus meinem politischen Wesen heraus, dass ich mich als Europäerin fühle."
Europäische Werte – die sieht wiederum Laura Cazés nicht nur aus der jüdisch-christlichen oder säkularen Tradition in Europa abgeleitet. Sie betont auch die jüdisch-muslimischen Berührungspunkte in der europäischen Geschichte - etwa den zentralen Wert der religiösen Toleranz im mittelalterlichen Spanien oder bis vor Kurzem mancherorts auf dem Balkan:
"Und der Grund, warum ich im Speziellen Sarajewo genannt hatte, aber eben auch Andalusien und ich würde eben auch die Türkei mit einbeziehen. Das sind Orte, in denen es auch ein jüdisch-muslimisches Vermächtnis in Europa gibt, das eben auch die europäische Kultur mit geprägt hat. Ich glaube, dass das auch immer wieder wichtig ist zu benennen, wenn wir von bestimmten Narrativen sprechen, die andere Dinge nicht zulassen, die aber genauso die europäische Kultur mitgeprägt haben."

Akzeptanz ist der Schlüssel

Klar ist für Laura Cazés auch: Der Begriff Europa muss ein offener Begriff sein. Auch Länder wie Ungarn oder Polen dürften trotz etwa der fragwürdigen Justizpolitik ihrer Regierungen nicht als Teile der europäischen Wertegemeinschaft in Zweifel gezogen werden:
"Wir sehen das in Polen, in dem es eine unglaubliche zivilgesellschaftliche Dynamik gibt. Wo es Proteste gibt und Demonstrationen, die sich immer wieder einsetzen für das offene Verhandeln von freiheitlich-demokratischen Werten, von Frauenrechten, von Rechten von LGBT-Personen. Und auch da müssen wir die Chance wahrnehmen von Europa als eine Plattform der Zivilgesellschaften, als eine Plattform universeller Repräsentanz, mit der wir uns alle identifizieren können."

Die einen, die wollen, und die anderen, die nicht können

Gehört Israel zu Europa? Beim Fußball oder beim "European Song Contest" steht das ja inzwischen außer Zweifel. Aber was ist mit einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union? Laura Cazés:
"Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, dass die israelische Kultur ganz stark geprägt ist durch Europa. Rein geografisch gehört Israel nicht zu Europa, was das demokratische Verständnis angeht, was die Kulturgeschichte angeht, was die kulturelle Diversität auch heutzutage angeht, steht Israel in enger Korrespondenz zu Europa. Aber Israel gehört in dem Sinne nicht zum europäischen Kontinent."
Anders als Großbritannien. Das wird auch trotz Brexit weiterhin zu Europa gehören, so wie die britischen Studierenden zur "European Union of Jewish Students". Dalia Grinfeld:
"Wir sind eine Generation auch, wo wir nicht nur gemeinsam auf europäischen Veranstaltungen gehen im jüdischen Kontext, sondern auch gemeinsam jüdisch-politisch aktiv sind. Das ist der große Wert, der so zusammenschweißt: Das wir uns als Europäerinnen auch sehen und als jüdische Europäerinnen gemeinsam politisch agieren auf europäischer Ebene aus Juden. Und das lässt mich als jüdische Europäerin fühlen."
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