Brenner

Goethes "Felsenkluft" ist heute ungemütlich

Am Brenner hat kürzlich ein Outlet-Store eröffnet − die Touristen sollen hier auch shoppen, nicht nur rasten.
Am Brenner hat kürzlich ein Outlet-Store eröffnet − die Touristen sollen hier auch shoppen, nicht nur rasten. © dpa / picture alliance / Alvise Armellini
Von Jan-Christoph Kitzler · 06.06.2016
Goethes Buch "Italienische Reise" trifft auf Italiens Wirklichkeit: Im ersten Teil unserer Serie sind wir am Alpenpass Brenner. Aus der idyllischen "Grenzscheide des Südens und des Nordens" wurde ein hässlicher Unort − der neuerdings auch wieder eine Grenze ist.
Unsere "Italienische Reise" beginnt am Brenner. Goethe verbrachte nur eine kurze Nacht im Gasthaus auf der Passhöhe. Eigentlich wollte er dort ein paar Zeichnungen machen. Aber sein Wirt drängte ihn zur Abreise, er brauchte die Pferde für die Heuernte. Am 8. September 1786 notierte Goethe am Abend seine Erlebnisse auf dem Weg zum Brenner:
"Nun wurde es dunkler und dunkler, das Einzelne verlor sich, die Massen wurden immer größer und herrlicher, endlich, da sich alles nur wie ein tiefes geheimes Bild vor mir bewegte, sah ich auf einmal wieder die hohen Schneegipfel vom Mond beleuchtet, und nun erwarte ich, daß der Morgen diese Felsenkluft erhelle, in der ich auf der Grenzscheide des Südens und des Nordens eingeklemmt bin." (Goethe, Italienische Reise, Kapitel 3)

Ein Dorf wurde baulich vergewaltigt

"Wie dann 1918/19 die Grenze gezogen wurde und das italienisches Gebiet geworden ist, hat man baulich den Brenner total vergewaltigt. Aus einem schönen, idyllischen Bergdorf ist sozusagen ein in Anführungszeichen Unort geworden."
... sagt Günther Ennemoser. Früher hat er am Brenner eine Schule geleitet. Seit einigen Jahren ist er der Dorfchronist der Gemeinde. Wo früher nur zwei, drei Höfe standen, ein Gasthaus und eine Kirche, die dem Heiligen Valentin geweiht ist, dem Schutzheiligen der Reisenden. Aber mit der Grenze kamen die Grenzanlagen und Kasernengebäude für die Grenztruppen.
Seitdem ist der Brenner hässlich geworden. Er ist seit jeher ein Durchgangsort. Weil der Brenner der niedrigste, bequemste Pass über den Alpenhauptkamm ist, quetschen sich heute durch das enge Tal eine viel befahrene Autobahn, die alte Staatsstraße und eine stark ausgelastete Bahnstrecke. Mit einer idyllischen Reise wie weiland bei Goethe hat das Überqueren des Passes nichts mehr zu tun.
Dennoch bleibe der Brenner faszinierend, meint Franz Kompatscher, der Bürgermeister der gleichnamigen Gemeinde:
"Der Brenner ist ein ganz besonderer Ort. Am Brenner kommen die Kulturen zusammen, und das Besondere liegt eben schon auch darin, dass sich die Kulturen begegnen. Dass es ein Ort ist, der auch eine gewisse Flüchtigkeit in sich trägt. Denn am Brenner bleibt man ja nicht ewig lange. Am Brenner bleibt man stehen zum Einkaufen, zum Rasten, um Cappucino zu trinken, irgendetwas zu essen. Von daher kann man schon sagen, dass er ein Tor zum Süden ist."

Jetzt spricht man wieder von Grenze

Dieses Tor zum Süden mit seiner wechselvollen Geschichte ist inzwischen wieder in den Fokus geraten. Am 1. April 1998 haben Österreicher und Italiener die Schlagbäume abgebaut. Es gibt jetzt einen Kreisverkehr auf der Staatsstraße, der zu einem Viertel in Österreich und zu drei Vierteln in Italien liegt. Ein großes Outlet-Center steht am Brenner, damit die Reisenden einen Grund haben, anzuhalten. Günther Ennemoser, der Dorfchronist:
"Niemand hat mehr von Grenze gesprochen. Bis jetzt. Bis wieder in den Sprachgebrauch Zäune, Stacheldrahtzäune und so weiter die Schlagworte in unsere Sprache hineingekommen sind. Und jetzt weiß ich nicht, wie das weitergeht."
Mit der Flüchtlingskrise in Europa wird es am Brenner langsam wieder ungemütlich. Österreich schottet sich mehr und mehr ab. So wird der Alpenpass, an dem Goethe ins Träumen kam, zum Symbol für vieles, was in Europa gerade schief läuft.
Franz Kompatscher: "Ich sage immer, am Brenner spürt man Europa oder spürt es nicht. Zuerst war ja der Brenner der Ort mit den Zollschranken. Mittlerweile ist es so, dass man es eben gar nicht mehr wahrnimmt, dass man über die Grenze fährt, und das, glaube ich, hat den Menschen gut getan. Und das, glaube ich, macht Europa aus. Wir genießen ja alle Europa, dass wir sagen: Wir haben eine einheitliche Währung, wir können frei zirkulieren, wir brauchen uns nicht groß Gedanken machen, ob wir jetzt einen Ausweis haben oder nicht. Das haben wir alle genossen, ganz besonders am Brenner. Und jetzt leider Gottes ist es halt so, dass man am Brenner auch wieder merkt, dass Europa ganz gewaltig in Krise ist."
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