Bremer Gericht verhandelt im Konzertsaal

Richterspruch statt Geigensolo im Kleinen Saal

Das Konzerthaus "Die Glocke" in Bremen ist in der Dämmerung erleuchtet. Auf der Backsteinaußenwand steht "Die Glocke"
Das Konzerthaus "Die Glocke" in Bremen hat dem Landgericht in der Coronakrise einen seiner Säle zur Verfügung gestellt. © imago / imagebroker
Von Felicitas Boeselager · 24.07.2020
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In Bremen weicht das Landgericht in ein nahe gelegenes Konzerthaus aus: Angesichts des Corona-Abstandsgebots habe sich schnell gezeigt, dass die Gerichtssäle an ihre Grenzen stießen, sagt Richter Thorsten Prange. Nur an der Akustik musste gefeilt werden.
Musik. Klänge, die man im Bremer Konzerthaus "Glocke" schon seit einer Weile nicht mehr gehört hat. Während es in der "Glocke" still ist, herrscht draußen Baulärm. Zwei Schilder stehen vor dem Eingang, auf dem einen steht, dass das Haus bis auf weiteres geschlossen hat. Und auf dem anderen: "Öffentliche Verhandlung des Landgerichts."
Das eigentliche Gebäude des Bremer Landgerichts liegt nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Straßenseite. Dort sitzt Richter und Pressesprecher Thorsten Prange in seinem Büro und erzählt, weshalb heute in der "Glocke" verhandelt wird. "Die Verwaltung des Landgerichts hat schnell ermittelt, wie können wir unter Wahrung des Abstandsgebots hier Verhandlungen durchführen. Und da hat sich sehr schnell gezeigt, dass unsere schönen und auch gar nicht so kleinen Gerichtssäle an ihre Grenzen stoßen."

Öffentlichkeit der Verhandlung ist Pflicht

Durch eine Schwingtür geht es in die Glocke vorbei an der Sicherheitskontrolle der Wachtmeister, im bekannten Corona-Einbahnstraßensystem durchs Foyer; entlang der Bar, auf der noch Champagnerflaschen stehen; die große Freitreppe hinauf in den Kleinen Saal. Der alte Holzboden im Saal knarzt. Wachtmeister zeigen den Weg zu den Sitzplätzen für die Öffentlichkeit. Dass es diese Plätze gibt, war bei der Auswahl des Saals zentral, schließlich muss das Landgericht öffentlich verhandeln.
Auf den ersten Blick wird die Sitzordnung im Saal nicht erkennbar, dabei ist sie wichtig für jedes Verfahren, sagt Prange, außerdem: "Es müssen natürlich auch ein paar technische Voraussetzungen geschaffen werden, Akustik ist eine ganz wichtige Geschichte. Und natürlich für die Protokollführer entsprechend zu arbeiten, das Protokoll zu schreiben, aber das sind heute im technischen Zeitalter ja durchaus lösbare Probleme und schon kann eine Verhandlung da durchgeführt werden."
Wenn Angeklagte in Untersuchungshaft sitzen, dann finden die Verhandlungen aus Sicherheitsgründern weiterhin im Landgericht statt. In diesem Fall aber geht es um Wirtschaftskriminalität und die Angeklagten sind auch nicht in Haft. Langsam füllt sich der kleine Saal. Richterin und Schöffen sitzen an einer Seitenwand, ihnen gegenüber die Angeklagten und dahinter sind Plätze für die Öffentlichkeit. Die Bühne am Kopf des Saales braucht jetzt niemand.

Roter Teppich gegen den Schall

Es sei nicht schwer gewesen, den Raum umzufunktionieren, sagt Carsten Preisler, Sprecher der "Glocke": "Weil der Kleine Saal im Gegensatz zum großen Saal variabel bestuhlt ist, weil er auch ansonsten für Empfänge, Konferenzen oder kleine Betriebsversammlungen variabel genutzt wird. Von daher war dann die Frage, was für Anforderungen gestellt werden, Personenzahl und Tische, aber das war dann kein Problem. Und dann wurde halt noch extern von einem Techniker eine Tonanlage hinzu gemietet."
Der Techniker sitzt hinter einem mit schwarzem Molton bedeckten Tisch in einer Ecke des Saales. Er will seine Stimme nicht im Radio hören, erzählt aber, dass die Akustik im Saal die größte Herausforderung war. Der Klang ist so klar, dass sogar das Tippen auf der Tastatur der Laptops der Verteidiger überall zu hören ist. Deshalb ist der Saal jetzt zum Teil mit einem roten Teppich ausgelegt, der soll den Schall etwas dämpfen.
Ganz pragmatisch war dieser Umzug also kein großes Problem, aber bleibt die Würde des Gerichts auch im Konzertsaal bestehen? "Letzten Endes gibt es eine ganze Reihe von Gerichten, die in ganz funktionalen Gebäuden untergebracht sind und verhandeln", sagt Richter Thorsten Prange. "Und in genau derselben Würde verhandeln wie hier bei uns, in diesem alten, schönen, historischen Gerichtshaus."

Gerichtsumzüge kommen häufiger vor

Abgesehen davon, dass der Saal in der "Glocke" mit der hohen, dunklen Holzvertäfelung, den Spiegeln in der Wand und der hohen Decke eine eigene Atmosphäre hat – es ist außerdem nicht ungewöhnlich, dass Gerichte umziehen: Der Love Parade Prozess zum Beispiel fand in einer Düsseldorfer Messehalle statt, das Verfahren gegen den Krankenpfleger Niels Högel in einer Konzerthalle in Oldenburg. In beiden Fällen mussten die Gerichte wegen des großen öffentlichen Interesses in größere Säle ziehen.
Auch Prange erinnert sich, dass er mit seinem Gericht schon vor Corona manchmal umgezogen ist – "als eine Kollegin kürzlich an einer Lungenentzündung erkrankt war, hohes Fieber hatte, und wir eine sehr lange Hauptverhandlung schon durchgeführt hatten und jetzt nicht diese Hauptverhandlung riskieren wollten. Daraufhin habe ich kurzerhand ein italienisches Lokal drei Häuser weiter gebeten, es für eine Stunde als Gericht zur Verfügung zu stellen" – damit keine Fristen übertreten wurden und die Richterkollegin wenigstens kurz dabei sein konnte.
Es brauche Pragmatismus und Improvisationstalent, sagt Prange. Und so fällt während der Verhandlung im Kleinen Saal irgendwann der Ort nicht mehr auf.

Musik soll im September zurückkehren

Draußen vor dem Kleinen Saal und im Foyer sitzen Mitarbeiterinnen der "Glocke". Sie tragen die gleichen dunklen Kostüme und bunten Halstücher, die sie auch zu Konzerten tragen würden. Für Leonie Friedrichs ist es der dritte Gerichtsdienst: "Eigentlich sind wir ja Deko, also Deko kann man schlecht sagen, aber es geht ja mehr um Wegweisung, oder eben für den Ernstfall, dass man eben doch mal helfen und alle Leute rausleiten kann."
Sie hätten bis zur Verhandlung kaum noch was zu tun gehabt, berichtet Friedrichs. Sie freut sich, dass immerhin jetzt wieder was los ist: "Ist auf jeden Fall eine Abwechslung, kriegt man ja auch sonst nicht so mit. Ist auf jeden Fall spannend, wenn man dann so überlegt, was für ein Fall wohl dahintersteckt."
Ab September kann man statt Zeugenaussagen in der "Glocke" hoffentlich auch wieder Musik hören. Bis dahin bleibt die Gerichtsbestuhlung im Kleinen Saal bestehen.
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