Braucht Deutschland eine neue Wertedebatte?

Von Wilhelm von Sternburg |
Gesellschaften sind stets auch Wertegemeinschaften. Die Weltreligionen und die philosophischen Kultursysteme basieren nicht zuletzt auf moralischen Werten, die das Individuum vor den Anschlägen seines Nachbarn schützen und den gewalttätigen Egoismus in uns bremsen sollen.
Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, deine Eltern ehren und so weiter, in allen Religionen spielen diese Ver- und Gebote eine zentrale Rolle. In der sich säkularisierenden Frühmoderne der europäischen Welt begannen die Rechtssysteme diese Schutzfunktion der Religionspostulate zu ersetzen. Generell gilt: Die als gemeinsam anerkannten Werte stabilisieren Gesellschaften und begründen das zum Überleben notwendige Gemeinschaftsgefühl. Im antiken Athen war die Welt zweigeteilt: hier die zivilisierte Gemeinschaft in der griechischen Polis, dort der Rest der Welt, deren Bewohner die Griechen als Barbaren bezeichneten.

Umso stärker sich Gesellschaften entwickeln und humanisieren, umso fragwürdiger werden ihre häufig im Formalen erstarrten Werte, auf die sie sich in der Vergangenheit berufen haben. In den Tragödien des Aischylos ist der von den Göttern vorgegebene Wertkanon noch in Ordnung. Schon in den Dramen des nur 40 Jahre jüngeren Euripides überwiegen die intellektuellen Zweifel an den häufig archaischen und grausamen Gesetzen der Götter. Euripides aber lebte im goldenen Zeitalter des antiken Athen.

Werte sind von den Mächtigen stets missbraucht worden. Im Namen ihrer Religion zogen die christlichen Kreuzfahrer mit Feuer und Schwert nach Jerusalem, und die Papstkirche verbrannte massenweise Ketzer und Hexen. Ludendorff und Hitler beschworen den deutschen Patriotismus, um ihre Verbrechen realisieren zu können. Amerikas Präsident Georg W. Bush verfällt in biblische Rhetorik, damit seine Nation den Krieg gegen den Irak akzeptiert. Auf Allah und den Koran berufen sich die islamischen Selbstmordattentäter. Die Liste der historischen Untaten, die mit einem gültigen gesellschaftlichen Wertekanon gerechtfertigt werden, ist unendlich lang.

In der Bundesrepublik war man in den Adenauer-Jahren bemüht, die Hitler-Zeit auszublenden. Die Deutschen entwickelten sich zu einer Gesellschaft von überaus materialistischen und egoistischen Individuen. In Moralfragen triumphierte bürgerliche Heuchelei, egal ob es um Familie und Sexualität, Gleichheit der Geschlechter oder der Klassen ging.

Der Ruf der Konservativen nach einer Neuerrichtung der so viel gepriesenen Sekundärtugenden, die angeblich der untergegangenen bürgerliche Gesellschaft zur Zierde gereicht haben sollen, ist in den vergangenen Jahrzehnten nie verstummt. Helmut Kohls einstige Beschwörung der geistig-moralischen Wende weist nicht weniger darauf hin, als der Ruf der neuen Industrie- und Politeliten, die Deutschen sollten doch endlich mobiler, sparsamer, fleißiger und anspruchsloser werden.

Welch eine neuerliche Heuchelei: Die Lohnquote sinkt und die Armutsspirale steigt. Junge Menschen in diesem Land müssen inzwischen Ausbildungs- und Arbeitsverträge akzeptieren, die einst nur mit Hohnlachen im Papierkorb gelandet wären. Wer das Glück eines festen Arbeitsplatzes hat, steht unter erhöhtem Leistungsdruck, und ältere Arbeitnehmer werden unter demütigenden Umständen zur Arbeitslosigkeit verdammt. Das soziale Gleichgewicht ist längst gestört, was in diesem Land keinen hohen Gewinn verspricht, steht im Abseits. Auf der anderen Seite Rekordgewinne in der Großindustrie, was ihre mit Millionengehältern und -abfindungen ausgestatteten Manager keineswegs von der Ankündigung neuer Massenentlassungen abhält. Oder Aktionäre, die sich keinen Ruck geben müssen, um Deutschland vorwärts zu bringen, sondern deren Kapital sich in der Regel auf wenig schweißtreibende Weise wunderbar vermehrt. Bescheidenheit, Ehrlichkeit oder Solidarität – wo bitte wird das in den Chefetagen oder Parlamenten praktiziert?

Werte lassen sich bequem und kostenlos in Sonntagsreden beschwören. Sie vorzuleben ist erheblich schwerer. Daran aber hapert es in den Eliten unserer Gesellschaft und nicht im angeblich verlotterten Volk.

Wilhelm von Sternburg, geboren 1939 in Stolp (Pommern), war Fernseh-Chefredakteur des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main. Er lebt jetzt überwiegend in Irland. Sternburg schrieb unter anderem Biografien über Konrad Adenauer, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger und Erich Maria Remarque. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Deutsche Republiken. Scheitern und Triumph der Demokratie" und "Als Metternich die Zeit anhalten wollte. Unser langer Weg in die Moderne".