Brasiliens moderner Klassiker

Heitor Villa-Lobos ist der bekannteste klassische Komponist Brasiliens, seine „Bachianas“ gehören zum populären klassischen Repertoire. Sie sind relativ spät entstanden, doch schon in früheren Jahren wurde er berühmt. Zurecht – so die eindeutige Aussage von Manuel Negwer, der eine detail- und anekdotenreiche Biografie über den Komponisten geschrieben hat.
Anlass und Inhalt vieler Werke werden erklärt, Zeitgenossen zitiert, vor allem aber zeigt Negwer Villa-Lobos‘ schillernde Persönlichkeit und die Bedeutung seiner Musik im Kontext brasilianischer Zeitgeschichte, eingebettet in die Umbrüche und die Emanzipation der Landeskultur.

Villa-Lobos Jugend fällt in die ersten Jahre der Republik. 1889 als zweites von acht Kindern eines Bibliothekars geboren, bekam er mit sechs den ersten Musikunterricht. Der frühe Tod seines Vaters 1899 zwang den jugendlichen Heitor, seine musikalischen Fähigkeiten möglichst schnell zum Broterwerb einzusetzen.

Anfang des 20. Jahrhunderts war der Choro die populäre Musik in Rio de Janeiro – virtuose Instrumentalmusik mit einem hohen Improvisationsanteil. Da er schon gut Gitarre spielte, verdingte er sich der junge Villa-Lobos in Choro-Gruppen. Dort lernte er populäre Musiker seiner Zeit kennen, u.a. Ernesto Nazareth oder Donga, dem die erste Sambakomposition zugeschrieben wird. „Choro“ oder „Chorinho“ sind auch einige seiner Kompositionen aus dieser Zeit überschrieben, obgleich sie mit dem ursprünglichen Genre wenig gemein haben.

Parallel zu seinem musikalischen Engagement im populären Musikleben bemühte sich Villa-Lobos um Anerkennung im klassischen Musikbetrieb der brasilianischen Elite, die sich streng an europäischer Musik orientierte. Die Auseinandersetzung mit europäischen Vorbildern und die Emanzipation von diesen hin zu einem authentisch brasilianischen Ansatz durchziehen seine Biografie.

Villa-Lobos verweigerte sich einem akademischen Musikstudium nach den Regeln der europäischen Musik, gleichzeitig suchte er jedoch Rat und Anerkennung bei in Europa ausgebildeten Komponisten oder dem um 1917 in Rio weilenden Darius Milhaud.

Als er 1922 sehr selbstbewusst in Paris eintraf, beeindruckte ihn das dortige innovative Musikleben und beförderte seinen Mut zu eigenen originellen Kompositionen, in denen er frühere Ideen ausarbeitete. Eine große Stärke von Negwers Biografie ist, gerade in diesem Zusammenhang, die kritische und ausführliche Beschreibung der Entstehung von Heitor Villa-Lobos Werken, der seine Kompositionen gern vordatierte oder als Verarbeitung abenteuerlicher Reisen in Brasilien ausgab, nicht zuletzt, um sich in Europa als „brasilianischer Exot“ zu präsentieren.

Der Autor konfrontiert diese Selbstdarstellung mit den tatsächlich belegten Reisen des Komponisten: es waren lediglich zwei – eine davon immerhin ins Amazonasgebiet. Auch die von Villa-Lobos als indianisch oder afrikanisch titulierten Melodien hat er demnach nicht selbst gesammelt, sondern bekannten Volksliedern oder ihm zugänglichen musikethnologischen Tonaufzeichnungen entnommen. Das Be- und Überarbeiten bekannter Motive zieht sich durch sein gesamtes musikalisches Werk, wie im Laufe der Biografie immer wieder belegt wird, ohne damit die Originalität des Komponisten in Zweifel zu ziehen.

Die Einbeziehung brasilianischer Motive machte Villa-Lobos zum musikalischen Vorreiter der dortigen Modernismo-Bewegung. Negwer stellt schon am Anfang des Buches die strikte Orientierung der Oberschicht an Europa dar. Statt die erst 1888 aus der Sklaverei entlassenen Afro-Brasilianer zu integrieren, wurde im großen Maßstab Immigration aus Europa gefördert. Embranquecimento – die „Weißwerdung“ Brasiliens – war das erklärte Ziel der politischen Führer.

Dagegen wurde während einer Woche der modernen Kunst 1921 in São Paulo die „Einverleibung“ aller im Lande vorhandenen Traditionen zur Basis brasilianischer Kunst erklärt; an allen fünf Abenden gab Villa-Lobos Konzerte mit eigenen Werken.

Mit der Machtergreifung von Getulio Vargas 1930 beginnt auch für Villa-Lobos eine neue Schaffensphase. Das nationalistische Regime unterstützte seine musikpädagogischen Bemühungen. 1931 bereiste er als „Kulturmissionar“ 50 brasilianische Städte und entwickelte u.a. ein Chorwerk „Canto Orfeônico“ inklusive Anleitungsbuch mit 137 Kinder- und Volksliedern sowie didaktischen und musikhistorischen Kommentaren.

Außerdem entstehen zwischen 1930 und 1945 die Bachianas, seine bis heute populärsten, aber nach Negwer längst nicht besten Werke, weil am brasilianischen Massengeschmack orientiert und nicht wie vorher am neugierigen, Aufbrüche gewohnten Pariser Publikum. Negwer beschönigt dabei Villa-Lobos‘ politische Blindheit gegenüber dem diktatorischen Regime ebenso wenig wie dessen Eitelkeit.

Auch nach 1945 hat Villa Lobos noch viel komponiert, dennoch behandelt Negwer diese Zeit bis zu seinem Tod 1959 nur in einem relativ kurzen der insgesamt sieben Kapitel, in dem er auch die unterschiedliche Qualität der nahezu 2000 Kompositionen für Klavier, Cello, Gitarre, Streichquartett, Gesang oder Orchester anspricht. Insgesamt ergeben die angeführten biografischen, musikalischen und gesellschaftlichen Fakten ein Bild, das Villa-Lobos keineswegs persönlich überhöht und dennoch seine große Bedeutung für die brasilianische Musik erschließt.

Über den Autor: Manuel Negwer hat Gitarre bei Siegfried Behrend studiert und ist aktiver Gitarrist und Komponist. Er hat in Romanistik – Schwerpunkt spanische und portugiesische Literatur – promoviert und arbeitet seit über 20 Jahren beim Goethe-Institut, u.a. sieben Jahre in Brasilien. Negwer publiziert über Musik und Literatur Lateinamerikas.

Rezensiert von Christiane Gerischer

Manuel Negwer: Villa-Lobos. Der Aufbruch der brasilianischen Musik
Schott Verlag, Mainz 2008
277 Seiten, 22,95 Euro