Brasilien

Der schmutzige Krieg in Rios Hinterhof

Die brasilianische Armee patrouilliert im "Complexo da Maré".
Die brasilianische Armee patrouilliert im "Complexo da Maré". © picture alliance / dpa / Marcelo Sayão
Von Andreas Weiser · 14.04.2014
Zur Fußballweltmeisterschaft will sich Rio de Janeiro von der besten Seite zeigen. Die sozialen Missstände in den Armenvierteln soll niemand sehen, dafür sorgt das Militär. Rapper Macarrao gibt einen Einblick.
Rio de Janeiro an einem Sonntag. Ich bin auf dem Weg in die Nordzone Rios. Ziel: die Passarela 18 im Viertel Brás de Pina an der berühmt berüchtigten Avenida Brasil. Jenes löcherige Straßemonstrum, das sich stinkend und lärmend und teilweise achtspurig durch Rios riesigen dreckigen Hinterhof quält.
Gute 40 Minuten mit dem Taxi von der Copacabana aus, an guten Tagen. Wir passieren den "Complexo da Maré". Von der gerade dort stattfindenden Invasion von weit über 1000 Polizisten der "Policia Militar" und Soldaten des regulären Militärs, die eines der größten Favela-Komplexe Rios "befrieden" sollen, wie es offiziell so euphemistisch heißt, ist von hier aus nichts zu sehen. Alles ganz normal.
Die Panzerfahrzeuge sind schon drin. Das offizielle Rio will sich zur WM friedvoll und "zivilisiert" präsentieren. Logisch. Mein Taxifahrer, als könne er meine Gedanken lesen, wird plötzlich gesprächig:
"Das ist kein Weltcup, das ist eine Weltschande."
Es folgt eine Schimpfkanonade über korrupte Politiker, die zahllosen, schlecht organisierten Baustellen, das Verkehrschaos, das beschissene Gesundheitssystem ... und ja, die enormen Kosten für diese WM, die rausgeschmissenes Geld seien.
Groß, muskulös, von oben bis unten tätowiert
Und schon sind wir am Ziel: Unter einer Brücke an einem stinkenden Abwasserkanal, der Passarela 18, erwartet mich Macarrao: groß, muskulös, zusammengekniffene Augenbrauen, von oben bis unten tätowiert. Seines Zeichens Rapper und Favela-Intelektueller. Ich kenne ihn seit Anfang der 90er-Jahre. Damals ein schmales Bürschen, aufgewachsen in einer 50 Grad heißen Wellblechhütte ohne Strom und Wasser am Rande einer Hauptverkehrsstraße im Zentrum Rios, der "Vila Mimosa", damals das Prostituierten-Viertel Rios. Seine Brüder ins Drogengeschäft involviert. Er selbst ist sauber - aber voll ohnmächtiger Wut.
Heute, 24 Jahre später, empfängt mich ein 45 Jahre alter Vater von vier Kindern. Mal arbeitslos, mal als freier Drehbuchautor tätig. Seine Leidenschaft: Rap. Seine Methode soziale Missstände anzuprangern.
Zurzeit arbeitet er für den US-Fernsehsender HBO, für den er an einem Pitch zu einem Drehbuch über seine Kinderstube, die "Vila Mimosa" schreibt.
Frei sprechen nur in den eigenen vier Wänden
Nach zehn Minuten Fußweges kommen wir an in seinem Heim. Ich würde ihn am liebsten schon hier auf der recht aufgeräumt wirkenden Straße interviewen, der Atmosphäre wegen. Er winkt ab. Unmöglich. Das hier ist Comando Vermelho - also Drogenhändlerterritorium. Erst muß eine Genehmigung des Chefao, des zuständigen Bosses eingeholt werden. Die Verhältnisse sind komplex.
Frei sprechen mit Fremden geht nur in den eigenen vier Wänden. Hier aber ist das Thema des Tages schnell benannt: Die Invasion des Armenviertels des Complexo da Maré durch die "Policia Militar" und das Militär, die staatlichen "Befriedungsaktionen" also. Macarrao:
"Also lass uns mal verstehen was eine 'Befriedung' sein könnte. Du lebst also in einer Gemeinschaft, einer Comunidade [Gemeinschaft], die 30, 40 Jahre lang mit dem Drogenhandel lebt. Und plötzlich, aus dem Nichts heraus, entscheidet sich die Regierung, dieses Gebiet zurückzuerobern. Aber wie wird dieses Gebiet zurückerobert?"
"Die Stiefel kommen, die Gewehre kommen, aber was nicht kommt sind Schulen. Was nicht kommt ist ein funktionierendes Gesundheitssystem. Etwas, was der Staat uns eigentlich schuldet."
High-Society-Partys in der Südzone
Ja aber der Drogenhandel ist ja wohl keine Erfindung der Regierung und man kann ja auch nicht gerade behaupten, dass die Drogenkriminellen so eine Art NGO ist, höre ich mich sagen. Jetzt möchte Macarrao dann aber doch die tieferen Zusammenhänge des Problems erläutern:
"Also dann lass uns mal über die Komplexität des Problems sprechen. Brasilien ist riesig, mit Grenzen zu verschiedenen anderen Ländern. Es ist ganz wichtig zu verstehen, dass die Favela-Gemeinschaft keine Drogen herstellt. Sie kauft sie. Diese Drogen kommen von den Grenzen. Und dort gibt es Leute, die diese Drogen passieren lassen. Verstanden? All die neuen Waffen, die diese Jungs haben, stammen aus Fabriken, in denen sie registriert werden, genau wie auch der Erstkäufer registriert wird. Also eigentlich wäre es kein Problem die Herkunft dieser Waffen festzustellen. Und was sagt uns das? Das Problem kommt von oben! Gerade kürzlich wurde auf einer Fazenda zweier brasilianischer Politiker aus der Familie Perela ein Helikopter mit einer halben Tonne Kokain entdeckt. Der Helikopter gehört der Familie. Der Pilot arbeitet für die Familie. Die Fazenda gehört der Familie. Und sie mussten einfach nur behaupten, dass Koks gehöre nicht ihnen, und wurden nicht verhaftet. Was glaubst du wohl, wo der Stoff, diese halbe Tonne Kokain landet? Er wird an die Favelas geliefert. Verstehst du? Aber gleichzeitig trainieren sie die Polizei, um die Händler in den Favelas zu töten."
Und wer sich mal auf High-Society-Partys in der Südzone Rios umgetan hat, wird unschwer erraten können, in welch edlen Nasen sich unter anderem dieses blutig weiße Pulver zu Allmachtsfantasien verwandelt.
Macarrao wird die WM boykottieren
Wird der Fußballtourist etwas vom schmutzigen Krieg im riesigen Hinterhof Rios mitbekommen? Ach was, sagt, Macarrao:
Sie werden ein wunderschöne Stadt sehen, wunderbar sauber. Sie werden Fußball sehen. Im Maracaná wird man angeheuerte Models mit rausgestreckten Hintern strategisch im Stadion platzieren. Ein Brasilien mit dem Höschen in der Arschfalte. Das ist doch das Bild, das sie von der brasilianischen Frau verkaufen."
Eins steht fest. Macarrao wird diese WM boykottieren, wie auch der Taxifahrer, der mich zu ihm gebracht hat. Er hofft, dass diese WM für die brasilianische Fußballnationalmannschaft das größte Fiasko in der Geschichte des brasilianischen Sports wird, sagt er. Und es denken sehr viele Cariocas, Bewohner Rio de Janeiros, so wie Macarrao.