Boxen um Leben und Tod

In "Eines Tages werde ich alles erzählen" schildert Alan Scott Haft die Lebensgeschichte seines Vaters, des ehemaligen KZ-Häftlings und jüdischen Profi-Boxers Hertzko Haft. Er wurde in Auschwitz zum Boxer ausgebildet und musste vor den Wachmannschaften Schaukämpfe auf Leben und Tod austragen.
Alan Scott Haft ist Jurist. Er hat die unglaubliche Lebensgeschichte seines Vaters Harry "Hertzko" Haft aufgeschrieben. Fünf Jahrzehnte lang litt er unter dem Jährzorn, der Gewalttätigkeit und den psychischen Krisen seines Vaters. Aber er wusste nicht genau, woher das kam. Er wusste nicht, warum sein Vater so war, wie er war. Erst kurz vor seinem Tod erzählte Harry seinem Sohn die ganze Geschichte. Es ist eine Geschichte über die Begegnung eines Menschen mit dem Bösen in seiner extremsten Form. Sie beginnt im Herbst 1939, kurz nachdem die Wehrmacht Polen überfallen hat, in dem kleinen Städtchen Belchatów in der Nähe von Lódz. Hertzko lebt dort mit acht Geschwistern und seinen Eltern in einer ärmlichen Hütte. Der Vater stirbt. Hertzko ist 15, schlägt sich mit Gaunereien durch, möchte seine große Liebe Leah heiraten. Doch es kommt anders.

Er wird verhaftet und in verschiedene KZ und Arbeitslager verschleppt. Hertzko Haft schuftet in Bergwerken. Zur Unterhaltung der SS-Offiziere und Wachmannschaften muss er im Lager gegen andere Häftlinge boxen. Nur wer gewinnt, bleibt am Leben. In Auschwitz wird er im Krematorium eingesetzt, muss Leichen in die Öfen werfen. In den Baracken erlebt er, wie vor Hunger irre gewordene Menschen Mithäftlinge töten, um sie anschließend zu verzehren. Kurz vor Kriegsende kann Hertzko fliehen. Er tötet einen SS-Mann, schlüpft in dessen Uniform, tötet weiter, um selbst am Leben zu bleiben, betreibt für kurze Zeit ein Bordell, kauft sich ein Ticket, besteigt ein Schiff, das ihn in die USA bringt.

In New York versucht Hertzko Haft eine Profiboxkarriere zu starten. Sein einziges Ziel ist, so berühmt zu werden, dass sein Foto eines Tages in die Zeitung kommt, damit seine Jugendliebe Leah es sieht und sie wieder zusammenkommen können. Doch er erreicht weder das eine noch das andere. Harry Haft heiratet und wird Obsthändler in Brooklyn. Seine Frau bekommt drei Kinder. 1963, während eines Familienurlaubs in Florida, gibt es dann doch noch ein letztes Wiedersehen mit Leah, Harrys großer Liebe. Doch für den Vater und seinen 13-jährigen Sohn ist auch dieser emotional aufgeladene Besuch eine traumatische Erfahrung.

Der Jurist Alan Haft schildert das Unfassliche in einer nüchternen, einfachen Sprache. Es ist eine Reportage über das aberwitzige Leben seines Vaters, beklemmend und ergreifend. Das Buch ist aus einer Tonbandaufnahme entstanden. Zwei Tage lang hat Hertzko, der kaum richtig lesen und schreiben konnte, seinem Sohn sein Leben erzählt. Das Buch erzählt in der dritten Person. Als ob ein Unbeteiligter, ein distanzierter Zaungast, Hertzko auf dessen schrecklicher Reise beobachten würde. Kann jemand, der so Schreckliches erlebt hat, überhaupt je wieder Vertrauen finden, sich selbst vertrauen? Dass aus dem Auschwitz-Überlebenden und Mörder Hertzko Haft der Obsthändler und Familienvater Harry Haft geworden ist, ist die schier unglaubliche Leistung dieses misshandelten Menschen.

"Eines Tages werde ich alles erzählen" ist eine spannende Mischung aus Tatsachenbericht, Roman und Sachbuch. Im Anhang gibt es zwei sehr informative Zusatzkapitel. Der Historiker John Radzilowski schreibt über das jüdische Leben in Polen. Der amerikanische Boxhistoriker Mike Silver gibt Auskunft über die Verbindungen zwischen Preisboxern und Mafia im New York der 1940er und 1950er Jahre. Im sehr lesenswerten Nachwort schreibt Alan Scott Haft, dass er sich sein ganzes Erwachsenenleben vergeblich darum bemüht hat, die Liebe seines Vaters zu gewinnen. Dieses Buch sei - posthum – sein letzter Versuch. "Nachdem ich aus erster Hand erfahren habe, was mein Vater ertragen musste, verstehe ich, warum er so war, wie er war. Ich liebe ihn und ich vergebe ihm."

Besprochen von Thomas Jaedicke

Alan Scott Haft: Eines Tages werde ich alles erzählen
Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft

Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2009
191 Seiten, 16,90 Euro