Boxen als Weltanschauung
Der Boxsport mit seiner archaischen Ausstrahlung zieht Menschen in seinen Bann. Auch A. J. Liebling war von dem Kampf Mann gegen Mann fasziniert und hat mit seinen in "Die artige Kunst" versammelten Reportagen Boxlegenden ebenso wie kleinen Stars der Szene ein Denkmal gesetzt.
Handschuhe, zwei Männer, ein Ring. Mehr braucht es für einen Boxkampf nicht, und vermutlich ist es diese einfache Konstellation, die immer wieder eine eigene Strahlung entfaltet. Mann gegen Mann, ein Urerlebnis. Der große amerikanische Reporter A. J. Liebling, 1904 in Österreich geboren und 1963 in New York gestorben, hat als Jugendlicher selbst geboxt und genug über den Sport gelernt, um die Aktionen der Fighter auch aus handwerklicher Perspektive beurteilen zu können. Gleichzeitig verfiel er dem Milieu rund um das Boxen: Gerade weil es ein Sport für Aufsteiger aus unteren Schichten war, konnte er hier seiner Neigung zum "low life" frönen. Er trieb sich in Trainingslagern herum, schaute beim Sparring zu, fachsimpelte mit Coachs, befragte Cutmaster, trank mit Joe Louis und Sugar Ray Robinson um die Wette, diskutierte Schlaghände und rechte Haken mit Taxifahrern und sperrte auf der Tribüne Augen und Ohren auf. Das Publikum, das Gerede der Leute, die Zuschauermassen aus Harlem, die für den Kampf von Joe Louis gegen Savold 1951 im Madison Square Garden eintrafen, interessierten ihn ebenso wie das Geschehen im Ring.
"Die artige Kunst" ist ein Kompendium moderner Heldengesänge. Für die Puncher geht es immer wieder um alles. Liebling erzählt, wie Joe Louis zum letzten Mal glanzvoll aus dem Ring steigt – und wie er bald darauf gegen den hungrigen Rocky Marciano, einen bulligen Italiener, der aussieht "wie der Mann, der in der arabischen Neun-Mann-Akrobatenpyramide ganz unten steht", elend verliert und auf einen Schlag altert. Der quirlige New Yorker Reporter findet wunderbare Beschreibungen für die Geraden, mit denen Ray Turpin auf Sugar Ray Robinson losgeht: Sie seien wie losgelassene Bowlingkugeln oder wie Kopfnüsse, die eine Großmama an ihre Enkel verteilt. Auch die Wirkung eines britischen Suet-Puddings auf einen ahnungslosen Magen muss als Vergleich für einen kräftigen Knock out herhalten. Großartig sind die Charakterisierungen der Boxer: Turpin ähnele einer Colchesterauster, wie er kühl und gelassen in seiner Ecke sitzt, heißt es. Ein anderes Mal nennt Liebling den Kopf von Louis Gegner "eine schwindelige Sanduhr". Der Reporter verrät die Spitznamen von Fightern, wie "Manessa-Meißel" und "kleiner Bulldog". Aber die Boxer werden nicht nur im Kampf beobachtet, sondern geraten als Personen in sein Visier: Ein alter Champion hat zum Beispiel die Angewohnheit, durch seine – von Schlägen dezimierten – Vorderzähne kleine Luftgewehrkügelchen zu schießen – und zwar möglichst in die Dekolletés von Nachtklubhostessen.
Zu einem prägnanten Gesellschaftsporträt werden A.J. Lieblings Reportagen auch deshalb, weil er immer wieder geschickt wörtliche Rede einstreut – man bekommt als Leser also den Eindruck, mit ihm am Ring zu sitzen oder in einer Bar auf den Beginn des Kampfes zu warten. Da werden die rasanten Blondinen mit ihren rückenfreien Kleidern ebenso beschrieben wie die smarten Typen in Gabardineanzügen und beigefarbenen Filzhüten oder ein mit Seidenhemd und gelber Krawatte ausgestatteter Sitzplatznachbar, der bei jedem Schlag gegen seinen Favoriten quakt wie ein Ochsenfrosch. Bei aller Begeisterung für die "sweet science" liefert Liebling keine Hagiographien. Rocky Marciano, dessen stoisches Selbstvertrauen er durchaus bewundert, spricht er jede Eleganz ab. Sein Gegner Archie Moore, der es 1955 wagt, ihn herauszufordern, sei hingegen wie Kapitän Ahab aus Melvilles "Moby Dick" ein tragischer Held. Ihm erginge es so, wie einem Belcantosänger mit hervorragendem Repertoire, der von einem Typen verdrängt wird, der einfach nur laut sei.
Mit "Die artige Kunst" zeigt Liebling einmal mehr, was alle Box-Süchtigen wissen: Boxen ist kein Sport. Boxen ist eine Weltanschauung.
Rezensiert von Maike Albath
A. J. Liebling: Die artige Kunst. Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfes
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
Berenberg Verlag Berlin 2009
168 Seiten, 19, 90 Euro
"Die artige Kunst" ist ein Kompendium moderner Heldengesänge. Für die Puncher geht es immer wieder um alles. Liebling erzählt, wie Joe Louis zum letzten Mal glanzvoll aus dem Ring steigt – und wie er bald darauf gegen den hungrigen Rocky Marciano, einen bulligen Italiener, der aussieht "wie der Mann, der in der arabischen Neun-Mann-Akrobatenpyramide ganz unten steht", elend verliert und auf einen Schlag altert. Der quirlige New Yorker Reporter findet wunderbare Beschreibungen für die Geraden, mit denen Ray Turpin auf Sugar Ray Robinson losgeht: Sie seien wie losgelassene Bowlingkugeln oder wie Kopfnüsse, die eine Großmama an ihre Enkel verteilt. Auch die Wirkung eines britischen Suet-Puddings auf einen ahnungslosen Magen muss als Vergleich für einen kräftigen Knock out herhalten. Großartig sind die Charakterisierungen der Boxer: Turpin ähnele einer Colchesterauster, wie er kühl und gelassen in seiner Ecke sitzt, heißt es. Ein anderes Mal nennt Liebling den Kopf von Louis Gegner "eine schwindelige Sanduhr". Der Reporter verrät die Spitznamen von Fightern, wie "Manessa-Meißel" und "kleiner Bulldog". Aber die Boxer werden nicht nur im Kampf beobachtet, sondern geraten als Personen in sein Visier: Ein alter Champion hat zum Beispiel die Angewohnheit, durch seine – von Schlägen dezimierten – Vorderzähne kleine Luftgewehrkügelchen zu schießen – und zwar möglichst in die Dekolletés von Nachtklubhostessen.
Zu einem prägnanten Gesellschaftsporträt werden A.J. Lieblings Reportagen auch deshalb, weil er immer wieder geschickt wörtliche Rede einstreut – man bekommt als Leser also den Eindruck, mit ihm am Ring zu sitzen oder in einer Bar auf den Beginn des Kampfes zu warten. Da werden die rasanten Blondinen mit ihren rückenfreien Kleidern ebenso beschrieben wie die smarten Typen in Gabardineanzügen und beigefarbenen Filzhüten oder ein mit Seidenhemd und gelber Krawatte ausgestatteter Sitzplatznachbar, der bei jedem Schlag gegen seinen Favoriten quakt wie ein Ochsenfrosch. Bei aller Begeisterung für die "sweet science" liefert Liebling keine Hagiographien. Rocky Marciano, dessen stoisches Selbstvertrauen er durchaus bewundert, spricht er jede Eleganz ab. Sein Gegner Archie Moore, der es 1955 wagt, ihn herauszufordern, sei hingegen wie Kapitän Ahab aus Melvilles "Moby Dick" ein tragischer Held. Ihm erginge es so, wie einem Belcantosänger mit hervorragendem Repertoire, der von einem Typen verdrängt wird, der einfach nur laut sei.
Mit "Die artige Kunst" zeigt Liebling einmal mehr, was alle Box-Süchtigen wissen: Boxen ist kein Sport. Boxen ist eine Weltanschauung.
Rezensiert von Maike Albath
A. J. Liebling: Die artige Kunst. Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfes
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
Berenberg Verlag Berlin 2009
168 Seiten, 19, 90 Euro