Boutros-Ghali: Wir brauchen ein Weltparlament

Boutros Boutros-Ghali im Gespräch mit Joachim Scholl · 08.10.2008
Der ehemalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali sieht die Vereinten Nationen (UN) in einer Krise. Seiner Meinung nach müssten die Regeln der UN neu überdacht und beispielsweise die Teilnahme auch nichtstaatlicher Akteure ermöglicht werden. Die Etablierung eines Weltparlamentes sei dabei nur ein Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung des Gremiums, betonte er.
Joachim Scholl: Der Klimawandel, internationaler Terrorismus, eine globale Finanzkrise. Zurzeit hat man das Gefühl, die Welt fliegt einem nur so um die Ohren. Allerorten mühen sich die Nationalstaaten, die Probleme wieder in den Griff zu bekommen, die eigentlich nur international gelöst werden können. Wo bleiben eigentlich in dieser Situation die Vereinten Nationen? Boutros Boutros-Ghali war von 1992 bis 96 Generalsekretär der UN. Er hat in diesem Sommer eine Kampagne mitinitiiert, die ein Weltparlament zum Ziel hat. Wir haben den Politiker gestern in Berlin getroffen und ich habe ihn zunächst gefragt, wie er sich denn ein solches Weltparlament vorstellt.

Boutros Boutros-Ghali: Mein Grundgedanke dabei war, die Demokratisierung der Globalisierung zu erreichen. Und um diese Demokratisierung zu erreichen, muss auch eine Demokratisierung der UN, der Vereinten Nationen stattfinden. Es geht darum, dass eine Teilnahme der nichtstaatlichen Akteure ermöglicht wird. Was meine ich damit, wenn ich sage nichtstaatliche Akteure. In erster Linie meine ich damit nicht Regierungsorganisationen, zum Beispiel einzelne Nichtregierungsorganisationen, Gruppen, politische Parteien, aber auch multinationale Konzerne. Wie die dann neben den Staaten ihre Positionen einnehmen werden können, das ist ein Problem, ein technisches Problem, das wir noch in den Griff kriegen müssen. Aber nur auf diesem Weg, denke ich, kann man eine Demokratisierung der UN und damit auch eine Demokratisierung der Globalisierung erreichen.

Scholl: Aber wäre ein solches Gremium wirklich noch ein Weltparlament, wenn so viele unterschiedliche Stimmen mit so viel unterschiedlichen Interessen darüber streiten?

Boutros-Ghali: Es darf nicht alleine bei einer nationalen Organisation bleiben, nicht auf einen nationalen Staat begrenzt bleiben. Dann handelt es sich nicht um eine echte Demokratie. Um das zu erklären, es gibt viele Wege, in denen eine solche Kommunikation, eine solche Zusammenarbeit auch stattfinden kann. Nehmen wir als Beispiel die internationale Arbeitsorganisation. Dort gibt es einmal die Beschäftigten, die Arbeiter, dann die Besitzer der Fabriken, der Firmen und den Staat. Die arbeiten auch zusammen. Das ist nur ein Beispiel.

Scholl: Glauben Sie wirklich, dass die einzelnen Staaten, die jetzt schon kaum eine gemeinsame Linie erreichen, dass diese Staaten dazu bereit sind, sich ein weiteres Gremium zu schaffen, dem sie sich ja auch dann unterordnen müssten.

Boutros-Ghali: Ich sage nicht, dass das morgen passieren wird. Aber wegen der technologischen Revolution, die wir in dieser Zeit erleben, wird es nötig sein, dass in den nächsten Jahren in Angriff zu nehmen. Das sind Entwicklungen, die Zeit brauchen. Um ein Beispiel zu nennen. Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich der Völkerbund herausgebildet. Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden die Vereinten Nationen. Und nach Ende des Kalten Krieges hatten wir gar nichts. Und da kommt ja nicht nur das Ende des Kalten Krieges, sondern auch noch die technologische Revolution dazu. Diese technologische Revolution, die wir jetzt erleben, und das Ende des Kalten Krieges erfordern größte Veränderungen seitens der Situation, wie sie bestehen.

Scholl: Der erste Schritt, den Sie in Ihrem Aufruf beschrieben haben, wäre eine beratende parlamentarische Versammlung. Das heißt zunächst eine Versammlung ohne Macht und ohne Mitsprache. Birgt das nicht die Gefahr, dass ein solches Gremium zunächst ein reines Feigenblatt wäre?

Boutros-Ghali: Die Schaffung dieses internationalen Parlaments wäre nur ein Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung der Vereinten Nationen. Die Teilnahme nichtstaatlicher Akteure wäre ein anderer. Es gibt verschiedene Wege auf dem Wege dorthin, dieses Ziel zu erreichen. Wichtig ist, dass neben den souveränen Staaten auch unabhängige Organisationen, eine Zivilgesellschaft teilhaben muss, um die Regeln von morgen neu zu überdenken und neu zu schaffen.

Scholl: Boutros Boutros-Ghali, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Herr Ghali, diese Kampagne, inwieweit brauchen die Vereinten Nationen eine solche Initiative eigentlich für sich selbst, um ihre Bedeutung vielleicht auch wiederzuerlangen? Beim Irakkrieg haben wir gesehen, wie die USA die UN für irrelevant erklärt haben, das Nachfolgeprotokoll von Kioto kommt nicht in Gang. Jetzt bei der aktuellen Finanzkrise hört man von den Vereinten Nationen kein einziges Wort. Braucht es ein solches Weltparlament, auch um die Vereinten Nationen wieder aufzuwerten?

Boutros-Ghali: Ich habe immer gesagt, dass man nicht zu viel Bedeutung auf das Parlament setzen soll, darum geht es gar nicht in erster Linie, sondern um die Demokratisierung der internationalen Beziehungen für eine globale Demokratie. Man kann die Probleme nicht auf der nationalen Ebene allein lösen. Man schafft das nur international. Die Probleme, die die Welt nun einmal heute hat, wie Umweltprobleme, Armut, Emigration usw., das sind Weltprobleme. Das Souveränitätskonzept, wie wir es bisher kannten, der souveränen Staaten wird langsam auch schon durch die Globalisierung, durch die technischen Entwicklungen, durch die Entwicklung des modernen Staates außer Kraft gesetzt.

Scholl: Die Vision einer weltumspannenden Demokratie. Sie haben gestern diese Vision in einer Rede in der Berliner Akademie der Künste entworfen und ausgeführt. Angesichts der aktuellen schwierigen Weltlage, Mr. Ghali, was macht Sie eigentlich so zuversichtlich, dass diese Vision Wirklichkeit werden kann?

Boutros-Ghali: Die Auswirkungen der Globalisierung und der technischen Revolution sind so entscheidend. Die machen das im Prinzip von ganz alleine. Wissen Sie, die Entfernung, die es einmal gab, die gibt es so heute nicht mehr. Man kann von Berlin Buenos Aires in einer Minute erreichen. Früher brauchte man dazu mehr als zwei Monate. Diese Revolution, diese technische Revolution, und das Netzwerk der Kommunikation, das es jetzt gibt, ist so umfassend, dass es Staatsgrenzen nicht mehr berücksichtigt. Diese Grenzen sind nicht mehr relevant. Und die Globalisierung bringt die Veränderung im Prinzip von ganz alleine mit sich.

Scholl: Sie sagen ebenfalls in Ihrer Rede, unsere Aufgabe ist es heute, die Marksteine einer neuen Weltordnung zu setzen. Welche konkreten Marksteine meinen Sie?

Boutros-Ghali: Ich weiß nicht genau, wie die technologische Revolution genau ablaufen wird. Aber dass vieles in den nächsten zehn Jahren passieren wird, dessen bin ich mir sicher. Und dadurch werden neue Konzepte entstehen, dadurch werden auch neue Regeln entstehen, die wiederum von neuen Organisationen eingehalten werden müssen. Die neue technologische Revolution wird diese Regeln hervorbringen, die dann wiederum von neuen Organisationen benutzt werden.

Scholl: Was würden Sie allgemein sagen, Mr. Boutros-Ghali, wo stehen die Vereinten Nationen heute?

Boutros-Ghali: Momentan durchläuft die UN eine Krise, eine Krise aufgrund des Endes des Kalten Krieges, der ja nur eine Supermacht hervorgebracht hat. Es gibt nur noch eine bestehende Supermacht. Das führt zu zwei möglichen Perspektiven in der Zukunft. Einmal, dass sich neue Supermächte herausbilden wie zum Beispiel China, Indien, Brasilien, die EU oder auch Russland, die dann die UN-Maschinerie bestimmen werden. Oder aber, als zweite Möglichkeit, dass ein neuer amerikanischer Präsident gewählt wird, der wie damals Roosevelt oder wie Wilson 1919 erkennt, dass ein multilateraler Ansatz die UN weiterbringt, dass man multilateral arbeiten muss. Und wenn eine amerikanische Regierung das versteht, dann wird es auch weitergehen. Momentan ist es so, jetzt denken die Amerikaner, dass sie allein den Verlauf des Geschicks in der Hand haben, dass sie allein die Regeln bestimmen können, nach denen in der UN gearbeitet wird.

Scholl: Wie bewerten Sie momentan die Auswirkungen der aktuellen Finanzkrise? Man hat das Gefühl, dass die Welt ein wenig aus den Fugen gerät, auch die USA, die Supermacht USA, mit ihrer Finanzmacht. Können die Vereinten Nationen eigentlich in dieser Krise irgendetwas bewegen, bewirken?

Boutros-Ghali: Nein, ich denke, dass die Finanzkrise völlig außerhalb der Vereinten Nationen stattfindet. Die UN spielen bei diesem ganzen Prozess keine Rolle. Sie haben weder dazu geführt, noch haben sie jetzt eine Rolle, die sie spielen könnten. Eine Lösung wird deshalb auch außerhalb der Vereinten Nationen stattfinden. Die Vereinten Nationen sehen sich in dieser Problematik marginalisiert. Und das ist eine neue Tatsache, der man ins Auge blicken muss. Zum ersten Mal sind die UN in so einem Fall marginalisiert.

Scholl: Aber gerade die globale Demokratie heißt eben auch die globale Ökonomie. Und gerade die Finanzkrise zeigt ja auch, wie schwer es ist, hier Einigkeit herzustellen. Jeder Staat bemüht sich, allein die Krise in den Griff zu bekommen. Eigentlich müsste man transnational vereint zusammenstehen nach der Idee der Vereinten Nationen.

Boutros-Ghali: Das sehe ich auch so und deshalb, denke ich, müssen wir uns vorbereiten auf die dritte Generation der internationalen Organisationen. Nach dem Ersten Weltkrieg haben wir die erste Generation internationaler Organisationen erlebt, nach dem Zweiten Weltkrieg die zweite, und jetzt erleben wir die dritte. Das wird einige Jahre dauern, bis man soweit ist. Man wird die öffentliche Meinung gewinnen können, man muss einige Schritte gehen. Vielleicht wird das am Ende zu einer neuen UN führen, zu einer neuen Art der Vereinten Nationen, vielleicht auch zu anderen Organisationen wie einer neuen Arbeitsorganisation, einer neuen Weltbank oder einem neuen Währungsfonds. Wir erleben eine technologische Revolution. Aber wir sind nicht auf die Auswirkungen dieser Revolution vorbereitet, auf die internationalen Organisationen von morgen. Deshalb müssen wir uns nun vorbereiten, wir müssen uns nun in Bereitschaft bringen, um diese neuen Organisationen mit zu schaffen zu helfen.

Scholl: Der Traum von einer globalen Demokratie und die Idee eines Weltparlaments. Das war Boutros Boutros-Ghali, früherer Generalsekretär der Vereinten Nationen. Mr. Boutros-Ghali, vielen Dank für das Gespräch. Thank you!

Boutros-Ghali: Danke schön!