Begnadigung von Boualem Sansal

Ein Schriftsteller zwischen den Fronten

Ein Poster mit einem Porträt von Boualem Sansal und den Worten "Liberté pour Boualem Sansal!" hängt an einem Zaun im 5. Arrondissement in Paris.
Die Verurteilung Boualem Sansals stieß in Frankreich und international auf massive Kritik © picture alliance / Hans Lucas | Henrique Campos
Ein Jahr lang saß Boualem Sansal in Haft. Nun hat Algeriens Präsident den französisch-algerischen Schriftsteller begnadigt – auf Bitten Deutschlands. Der Fall reicht weit über die Person Sansal hinaus: Beobachter sahen in ihm ein diplomatisches Faustpfand.
Der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal ist frei. Nach einem Jahr Haft wurde der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels am Dienstag (11. November) von Algeriens Staatschef Abdelmadjid Tebboune begnadigt. Damit kam Tebboune nach eigenen Angaben einer Bitte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach.
Steinmeier hatte seinen algerischen Amtskollegen gebeten, den 76-Jährigen angesichts seines hohen Alters und seines „fragilen Gesundheitszustands“ freizulassen. Sansal, der sowohl die algerische als auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt, ist nach Angaben seiner Familie an Prostatakrebs erkrankt. Eine längere Haft hätte er vermutlich nicht überlebt, meinen Beobachter. Er wird nun zunächst in Deutschland medizinisch versorgt.
In Frankreich und international war Sansals Verurteilung auf scharfe Kritik gestoßen, viele kritisierten ein politisch motiviertes Urteil. Trotz der Reaktionen schien die algerische Regierung lange unbeweglich. Proteste aus der Literaturwelt, Appelle und Bitten aus Frankreich blieben folgenlos. Nun hat sie dem Gnadengesuch aus Deutschland stattgegeben.

Wie Sansal zwischen die Fronten geriet

Boualem Sansal war im November 2024 am Flughafen in Algier festgenommen worden. Die Behörden warfen ihm unter anderem einen Angriff auf die staatliche Sicherheit und die territoriale Integrität Algeriens vor.
Sansal hatte in einem Interview die Grenzen Algeriens zu Marokko in Frage gestellt. In dem rechten, französischen Medium Frontières vertrat er die Ansicht, dass die marokkanischen Staatsgrenzen während der französischen Kolonialzeit zugunsten Algeriens verschoben worden seien. Im März 2025 war er zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.

Algerien, Frankreich und die Westsahara

Sansals Inhaftierung galt als politisch motiviert und Ausdruck der angespannten diplomatischen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte den Anspruch Marokkos auf Gebiete der Westsahara anerkannt, die Algerien für sich beansprucht. Sansal, so die Kritik, wurde Teil eines diplomatischen Tauziehens, eine Art diplomatisches Faustpfand.
Der Autor Durs Grünbein etwa nannte ihn eine „Geisel“ des algerischen Regimes. Literaturkritiker Dirk Fuhrig sprach von einem „Schauprozess“, bei dem es um mehr gehe als die Person Boualem Sansal. Fuhrig zufolge gehen die Differenzen zwischen beiden Ländern noch über den Territorialkonflikt mit Marokko um die Westsahara hinaus.
Er verweist auf Streitigkeiten auf wirtschaftlicher und diplomatischer Ebene, etwa zu Visa-Sonderregelungen. „Es gibt eine ganze Reihe von Themen, die sich zu einer Spannung aufgebaut haben“, sagte der Literaturkritiker nach der Urteilsverkündung im März. Sansal würde in diesem Konflikt genutzt, um Frankreich zu erpressen.

Sansal, das algerische Regime und die Meinungsfreiheit

Ein weiterer Aspekt in der Debatte um Sansals Inhaftierung: die Meinungsfreiheit. Sansal gilt als jemand, „der sich nicht den Mund verbieten lässt", so Literaturkritiker Fuhrig. In der Vergangenheit habe er sich stark gegen autoritäre und islamistische Tendenzen in Algerien und dessen Regierung geäußert - und galt den Machthabern deshalb laut Fuhrig schon lange als "ein Dorn im Auge".
Namhafte internationale Autoren wie der Friedenspreisträger Navid Kermani und der israelische Autor David Grossman würdigten Sansals Verdienste als kritischer Intellektueller. Najem Wali, Vizepräsident der Schriftstellervereinigung PEN Deutschland, mahnte während einer Solidaritätsveranstaltung im Juli 2025, Sansal sei kein Einzelfall. Weltweit würden Autorinnen und Autoren verfolgt, oft mithilfe einer politisch motivierten Justiz.

Gnadengesuch von Bundespräsident Steinmeier

Mit der Begnadigung Sansals ist Algeriens Präsident Tebboune einem offiziellen Gnadengesuch aus Deutschland nachgekommen. Wie das Präsidialamt in Algier mitteilte, reagierte Tebboune „positiv“ auf das am Montag (10. November) übermittelte Ersuchen seines Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier und gewährte Sansal aus „humanitären Gründen“ einen Sondererlass.
Steinmeier hatte vorgeschlagen, den Schriftsteller nach Deutschland ausreisen zu lassen, wo er medizinisch versorgt werden könne. „Eine solche Geste wäre Ausdruck humanitärer Gesinnung und politischer Weitsicht“, hatte er in Berlin mitgeteilt und weiter: „Sie würde mein langjähriges persönliches Verhältnis zu Staatspräsident Tebboune und die guten Beziehungen unserer Länder widerspiegeln.“

"Tauwetter" zwischen Deutschland und Algerien?

Der Politikwissenschaftler, Publizist und Freund Sansals, Claus Leggewie, lobt Steinmeiers „große Beharrlichkeit und stille Diplomatie“. Er verweist auf das „gute Renommee“, das Deutschland aufgrund seiner Unterstützung des algerischen Befreiungskrieges gegen die französische Kolonialmacht in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren in Algerien genieße.
Als möglichen Grund für die Begnadigung Sansals nennt er, „dass hier eine Perspektive für eine deutsch-französische Kooperation aufgemacht wurde“. Leggewie verweist nicht nur auf die angespannte Beziehung zwischen Frankreich und Algerien, sondern auch auf das zunehmend distanzierte Verhältnis Algeriens zu seinen ehemals "engen Freunden" China und Russland. Algerien störe sich daran, auf welch "drastische Weise" beide Nationen in der Sahelzone vorgingen.
Vor diesem Hintergrund sei vorstellbar, dass mit der Freilassung Sansals ein „Tauwetter“ zwischen Deutschland und Algerien erwartet werde. Steinmeier selbst sprach von einer „wichtigen humanitären Geste“, die auch „die Qualität der Beziehungen und des Vertrauens“ zwischen Deutschland und Algerien zeige.  

irs
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