Bombay-Roman

Opiumblüte und Heroinverfall

Von Gregor Dotzauer · 28.11.2013
Rund drei Jahrzehnte umfasst Jeet Thayils Episodenreigen "Narcopolis" und lässt dabei nichts aus: Huren, Dealer, Süchtige und viel Elend. Jeet Thayil verbrachte als Sohn des politischen Publizisten T.J.S. George den größten Teil seiner Jugend außerhalb Indiens - und er war selbst 20 Jahre lang abhängig.
Die Geschlossenheit von Romanen war immer eine Illusion. An den Rändern hatten auch die episch ausladendsten Unternehmen die Tendenz, sich ins Uferlose auszudehnen und begnügten sich mit einem Ausschnitt. Die schiere Zahl von 18 Millionen Menschen, die Mumbai und seine Vororte heute bevölkern, mag daher noch kein Grund sein, die Moloche dieser Welt für unerzählbar zu halten, doch sie verleiht den Schwierigkeiten zumindest eine neue Qualität. Jeet Thayil, 1959 im indischen Bundesstaat Kerala geboren und heute in Bangalore zu Hause, begegnet ihnen in seinem ersten Roman mit bewährten Mitteln – und einer ungewöhnlichen Vision.
Als Heroin Kokain verdrängte
"Narcopolis", ein rund drei Jahrzehnte umfassender Episodenreigen, der bis ins Jahr 2004 reicht, entwirft mit seiner Konzentration auf die Shuklaji Street im berüchtigten Rotlichtviertel Kamathipura einerseits einen überschaubaren Mikrokosmos von Huren, Dealern und Süchtigen. Andererseits widmet er sich einer Schicht der Wirklichkeit, die in ihrer drogenumnebelten Eingeschränktheit doch so etwas wie das Ganze der Umwälzungen erfasst, denen Bombay, wie Thayil die Stadt konsequent nennt, ausgesetzt war. Die in aller Ausführlichkeit geschilderten Opiumdämmerhöhlen verlieren ihre Bedeutung, als das aggressive Heroin Einzug hält, um wiederum vom Kokain verdrängt zu werden.
Unter der Glocke wechselnder Räusche flackern Szenen eines Landes auf dem Weg zur modernen Wirtschaftsnation auf – voller Mord, Totschlag und Vergewaltigung, aber auch voller überraschender Solidarität. Perspektivisch beginnen sie in der ersten Person, schwenken über zur dritten und sprechen am Ende der Opiumpfeife die erzählerische Autorität zu: Zeichen einer fortschreitenden Depersonalisierung, die an den Figuren zerrt. Die zwielichtigen Charaktere haben nur in Dimple ein sympathisches Zentrum. Schon als Kind entmannt, verbringt sie ein Bordellleben als hijra, wie man in Indien die Angehörigen des dritten Geschlechts nennt, und bereitet in Rashids Etablissement die Pfeifen zu.
Selbst 20 Jahre lang abhängig
Jeet Thayil verbrachte als Sohn des politischen Publizisten T.J.S. George den größten Teil seiner Jugend außerhalb Indiens, in Hongkong und New York. Das hat den Blick auf sein Land, in das er 1977 zurückkehrte, nicht weniger geprägt als die Sucht, die ihn selbst 20 Jahre lang im Griff hatte, und sein Selbstverständnis als Dichter. Denn auch als Erzähler ist er, im Guten wie im Schlechten, ein Lyriker geblieben.
Schon der Prolog, ein einziger, sich über neun Seiten erstreckender Satz, ist eigentlich ein Prosapoem. Der Preis dieses oft mitreißend suggestiven Schreibens ist, dass ihm ebenso oft der Atem für den großen Bogen fehlt. Der Roman, der auf der Shortlist zum letztjährigen Man Booker Prize stand und schließlich den DSC Prize for South Asian Literature gewann, zerfällt in allzu viele Fragmente. Zugleich überrascht "Narcopolis" dann wieder mit einer bündigen 70-seitigen Abschweifung zum Leben des aus Maos China nach Bombay geflüchteten Mr. Lee. Über alles Stückwerk hinweg verfügt Jeet Thayil jedoch über eine seltene Kraft: Die mitunter blutige Detailgenauigkeit seines Erzählens zeugt von einer Unbarmherzigkeit, ohne die auch keine Barmherzigkeit zu haben ist.

Jeet Thayil: Narcopolis
Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2013
379 Seiten, 22,99 Euro