Bolz: Ohne Ungleichheit kein Leistungsansporn
Norbert Bolz im Gespräch mit Ulrike Timm · 16.02.2010
Der Soziologe Norbert Bolz findet, dass Guido Westerwelles umstrittene Äußerungen zu Hartz-IV-Empfängern eine notwendige Diskussion um die Zukunft des Sozialstaats in Gang gebracht haben. Man könne die sozialen Fragen des 21. Jahrunderts nicht mehr "über Umverteilung, sondern nur durch mehr Produktivität" lösen.
Ulrike Timm: Spätrömische Dekadenz konnte sich im alten Rom nur die Oberschicht erlauben, die genoß und verbrauchte den Wohlstand, ohne etwas zu leisten, bis der Staat komplett den Bach runter ging. Insofern lag Guido Westerwelle begrifflich etwas schief, als er den Vorwurf der Dekadenz aufs Volk bezog und hier vor allem auf die, die wenig haben. Der FDP-Chef hat für seine Thesen nach dem Karlsruher Hartz-IV-Urteil viel Prügel bezogen – oder doch etwas auf den Punkt gebracht? Welche Prinzipien sollen unseren Sozialstaat leiten? Das debattieren wir hier im Radiofeuilleton. Gestern kritisierte in unserer Sendung der Politologe Albrecht von Lucke Westerwelles Ansichten, sie seien eine Abkehr von einem sich als sozial verstehenden Staat und damit auch vom Gemeinwohl, wörtlich sagte er:
Albrecht von Lucke: "Ich glaube tatsächlich, dass es dabei um eine ganz grundsätzliche Frage geht, nämlich die Aufkündigung des alten sozialstaatlichen Gebots: Wohlstand für alle. Wenn Westerwelle heute für so etwas plädiert wie die Abschiednahme von angeblichem "anstrengungslosen Wohlstand", dann verzerrt er ein Bild dieser Gesellschaft, in dem unendliche Zahlen von Menschen bereits abgehängt sind und in denen von anstrengungslosem Wohlstand nicht die Rede sein kann."
Ulrike Timm: Der Politologe Albrecht von Lucke gestern hier im Radiofeuilleton. Heute hören wir die Meinung des Soziologen Norbert Bolz. Schönen guten Tag!
Norbert Bolz: Guten Tag!
Timm: Herr Bolz, Sie haben mehrfach geschrieben, allzu viel Sozialstaat mache Menschen unmündig und träge, aus Ungleichheit würden auch Kräfte wachsen. Hat Guido Westerwelle bloß Lärm gemacht oder auch einen wichtigen Denkanstoß gegeben?
Bolz: Nein, er hat mit Sicherheit nicht nur Lärm gemacht, obwohl das bei Politikern im Wahlkampf natürlich immer auch im Vordergrund steht. Aber er hat da eine urliberale Position betont, wo es eigentlich doch für mich ein bisschen überraschend ist, wie hoch die Wellen da schlagen. Denn derartige Thesen, wenn man jetzt mal von der spätrömischen Dekadenz absieht, was wirklich deplatziert ist, genau so, wie Sie das in der Anmoderation gesagt haben, so ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit des liberalen Denkens.
Und wenn mein Politologiekollege gerade gesagt hat, Wohlstand für alle sei die selbstverständliche Erwartung eines Sozialstaats, dann ist das ja eine berühmte Formel von Ludwig Erhard gewesen, die damals gerade mit Sozialer Marktwirtschaft und Leistungsprinzip verknüpft war, und nicht mit dem Sozialstaatsprinzip selbst. Also da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Insofern hat eigentlich Westerwelle, so ungeschickt er es natürlich angestellt hat, durchaus ein zentrales Problem benannt.
Timm: Was bedeutet denn für Sie Leistungsgerechtigkeit in einem sozialen Staat?
Bolz: Nun, Leistungsgerechtigkeit kann ja eigentlich nur bedeuten, dass tatsächlich Leute, die produktiv sind, einen Gewinn von dieser Produktivität haben, der auch ersichtlich ist und dass Umverteilungsmaßnahmen in einem gewissen Rahmen bleiben, der es noch lohnend erscheinen lässt, sich auf die Seite der Produktiven zu stellen und nicht nur auf die Seite der Konsumierenden. Trotzdem, denke ich, ist es der unglaubliche Gewinn, den unsere Sozialstaatlichkeit erreicht hat, dass Menschen, die, wie man heute so scheußlich sagt, abgehängt sind vom erfolgreichen Wirtschaften, trotzdem ein lebenswürdiges Dasein fristen können. Daran wird natürlich auch in Zukunft jeder festhalten. Also, wir sind meilenweit davon entfernt, dieses Grundprinzip der Sozialstaatlichkeit in Frage zu stellen.
Timm: Es entzündete sich ja auch viel an diesem Satz "wer arbeitet, der soll mehr haben als wer nicht arbeitet", der aber nun auch wieder so ein Gemeinplatz ist, dass ihn wirklich jeder unterschreiben kann. Aber bringt es wirklich etwas, wenn wir auf das Gemeinwohl gucken, wenn man jetzt Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger gegeneinander ausspielt, statt sich um einen Staat zu sorgen, dem, wie bei uns zur Zeit, schlicht langsam aber sicher die Mitte wegbricht?
Bolz: Das ist absolut richtig. Ich glaube, man kann die Probleme einer Gesellschaft, die im Umbruch ist, weil sie sich einem globalisierten Markt stellen muss, auch das ist ja mittlerweile ein Gemeinplatz, der aber selten wirklich nur mal in die Konsequenzen hinein durchdacht wird. Bei einer solchen Gesellschaft und ihren Strukturproblemen kann man natürlich Schuld nicht auf den schmalen Schultern derer abladen, die mit dieser Bewegung, mit dieser Entwicklung nicht mehr mitkommen.
Trotzdem, denke ich, ist es richtig, eine Diskussion anzustoßen, die eine Alternative versucht aufzuzeigen, zu der Art des politischen Denkens, an die wir uns in den letzten 20 Jahren gewöhnt haben, nämlich alle sozialen Fragen im Grunde nur über Umverteilung zu lösen. Also, wenn Westerwelle etwas Vernünftiges gesagt hat, dann hat er dies gemeint, dass man wahrscheinlich die sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts nicht über Umverteilung, sondern nur durch mehr Produktivität lösen kann. Und das heißt ja wahrscheinlich dann eben dann doch über das Prinzip der Leistung. Also prinzipiell muss man ihm wohl zustimmen; dass das Ganze natürlich ungeschickt und auch, ja durchaus unhöflich und deplatziert ist, ist eine andere Sache.
Timm: Aber ein gewisses Lob der Ungleichheit höre ich bei Ihnen durchaus heraus, oder?
Bolz: Selbstverständlich! Ohne Ungleichheit gäbe es überhaupt keine Motivation zur Leistung. Ungleichheit ist ja nicht nur etwas, was Ressentiments weckt, sodass man die anderen herunterziehen möchte, die erfolgreicher sind, sondern Gott sei Dank ist Ungleichheit ja auch etwas, was die Menschen anspornt, mehr zu erreichen, aufzusteigen. Allerdings, und das ist das entscheidende Problem heute, es müssen eben auch Aufstiegschancen da sein. Also nur, wenn soziale Mobilität nach oben überhaupt möglich ist, hat das Leistungsdenken einen Sinn. Aber das ist eben auch die Bedingung dafür, dass eine kapitalistische Gesellschaft auch in Zukunft noch funktioniert.
Timm: Aber dann ist es ja auch wieder eine etwas theoretische Diskussion, Herr Bolz, denn wenn es wirklich die Ungleichheit ist, die die anderen antreibt, es den, ich sag mal, den Erfolgreichen nachzutun, was hat dann dann die alleinerziehende Mutter von ihrem Ehrgeiz, nach oben zu kommen, wenn ihr der Kitaplatz fehlt, damit sie diesem Ehrgeiz nachgehen kann?
Bolz: Sie haben vollkommen Recht, aber Sie werden mir zugeben, auch das ist mittlerweile ein Stereotyp geworden. Die alleinerziehende Mutter ohne Kitaplatz ist mittlerweile genau so eine stereotype Sozialfigur wie die leistungsfähige Krankenschwester, die immer den zuviel verdienenden Managern entgegengestellt wird. Vielleicht ist das ein Problem unserer Diskussion, dass wir uns zu schnell auf sehr handgreifliche Stereotype einigen, die das Denken blockieren. Und deshalb ist es vielleicht ganz nützlich gewesen, dass ein so ungeschickter Mensch wie Westerwelle eine Diskussion mit einer gewissen Brutalität angestoßen hat, die vielleicht in unserer politisch korrekten Betulichkeit gar niemals in Gang gekommen wäre.
Timm: Allerdings sind diese Stereotypen, von denen Sie sprechen, in unserer Gesellschaft vieltausendfach vertreten.
Bolz: Selbstverständlich ...
Timm: Also ganz real.
Bolz: Stereotypen sind immer real. Das sind nicht Vorurteile im Sinne von Gegenstandslosigkeit, sondern das sind nur Figuren, die sehr plastisch sind, die in ihrem Schicksal sehr eindringlich sind und die einem deshalb auch ein bisschen das Denken verstellen. Um es ganz simpel zu sagen, so wirklich schrecklich und bedenklich das Schicksal der Hartz-IV-Empfänger ist: Wir müssen auch zugeben, und das hat glaube ich Westerwelle gemeint, dass wir in den letzten Jahren über nichts anderes mehr gesprochen haben, wenn wir über die Zukunft der modernen Gesellschaft diskutiert haben. So gewichtig dieses Problem ist, so ernst zu nehmen und so souverän das gelöst werden muss durch den Sozialstaat, darin liegt sicher nicht die Lösung der Anpassung einer modernen Gesellschaft an eine globalisierte Welt. Die muss in der Produktivität und letztlich in der Leistung liegen. Und ich kann nur hoffen, dass Westerwelle genau das gemeint hat.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit dem Soziologen Norbert Bolz über die derzeitige Diskussion um soziale Gerechtigkeit in unserem Land. Herr Bolz, wenn wir mal an die 70er-Jahre zurückdenken, da galt es als ehernes Prinzip, dass von Zuwächsen immer auch die Schwächsten profitieren. War das so dumm? Die Gesellschaft scheint ja im Rückblick damals doch ausbalancierter gewesen zu sein?
Bolz: Vollkommen richtig. Das war ja auch noch nicht die globalisierte Gesellschaft der Gegenwart. Wir hatten noch zwar nicht abgeschottete, aber einigermaßen stabile Arbeitsmärkte und in der Tat gab es damals auch einen durch Erfolg der Wirtschaft getragenen Grundkonsens. Allerdings muss man sehen, dass genau diese Konzeption – der Kooperation von Wirtschaft und Staat – eben wenige Jahre später, schon in den 80er-Jahren, schlechter funktioniert hat und allmählich Krisensymptome gezeigt hat.
Das heißt, wir haben plötzlich bemerkt, wie hoch der Preis ist für den Sozialstaat, der uns bisher diese wunderbar balancierte Welt bis in die 70er-Jahre hinein geboten hat. Also das hat einen sehr prosaischen Hintergrund, diese Differenz, nämlich die Frage nach der Bezahlbarkeit.
Wenn Sie etwa an das Gesundheitswesen denken, wunderbare Fortschritte in der Möglichkeit, Menschen in der Gesundheit zu stützen, ihnen technisch weiterzuhelfen, aber verbunden mit gewaltigen Kosten, die aufzubringen eigentlich niemand mehr bereit und in der Lage ist. Also das sind reale, prosaische Probleme der Finanzierung des Sozialstaates, darüber gibt es eigentlich auch gar keinen Zweifel.
Timm: Lassen Sie uns noch mal bleiben bei Guido Westerwelle und seinen Thesen. Er hat ja viel Kritik einstecken müssen auch aus den eigenen Reihen, auch aus den Reihen des Koalitionspartners. Zum Beispiel heißt es in der ostdeutschen CDU, man soll nicht wieder auf die wenigen Schwarzen Schafe gucken, die den Sozialstaat melken und die jeden Sozialstaat ausnutzen würden, sondern sich endlich dem Problem stellen, das wir wirklich haben, nämlich schlicht nicht genug Arbeit für alle, die Arbeit haben wollen. Vielleicht sind diese Stimmen einfach näher an der Realität?
Bolz: Da stimme ich hundertprozentig zu, ich bin auch dieser Auffassung. Aber das ändert nichts daran, dass eine Grundsatzdiskussion ansteht, die Westerwelle vielleicht mit anstoßen könnte, nämlich die, wie das große soziale Problem unserer Zeit zu lösen ist, und da müsste es zu einer Konfrontation kommen zwischen der sozialdemokratischen Position der Umverteilung und der liberalen Position der wachsenden Produktivität. Wenn das ein Resultat der Intervention von Westerwelle wäre, dann hätte er zwar der FDP geschadet, aber er hätte vielleicht dem geistigen Klima in unserem Land sehr gut getan.
Timm: Wie viel Leistung darf man den Schwächeren abverlangen, wie viel Schutz muss ein Sozialstaat gewährleisten? Darüber diskutieren wir in dieser Woche im "Radiofeuilleton", heute mit dem Soziologen Norbert Bolz. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Bolz: Sehr gerne!
Albrecht von Lucke: "Ich glaube tatsächlich, dass es dabei um eine ganz grundsätzliche Frage geht, nämlich die Aufkündigung des alten sozialstaatlichen Gebots: Wohlstand für alle. Wenn Westerwelle heute für so etwas plädiert wie die Abschiednahme von angeblichem "anstrengungslosen Wohlstand", dann verzerrt er ein Bild dieser Gesellschaft, in dem unendliche Zahlen von Menschen bereits abgehängt sind und in denen von anstrengungslosem Wohlstand nicht die Rede sein kann."
Ulrike Timm: Der Politologe Albrecht von Lucke gestern hier im Radiofeuilleton. Heute hören wir die Meinung des Soziologen Norbert Bolz. Schönen guten Tag!
Norbert Bolz: Guten Tag!
Timm: Herr Bolz, Sie haben mehrfach geschrieben, allzu viel Sozialstaat mache Menschen unmündig und träge, aus Ungleichheit würden auch Kräfte wachsen. Hat Guido Westerwelle bloß Lärm gemacht oder auch einen wichtigen Denkanstoß gegeben?
Bolz: Nein, er hat mit Sicherheit nicht nur Lärm gemacht, obwohl das bei Politikern im Wahlkampf natürlich immer auch im Vordergrund steht. Aber er hat da eine urliberale Position betont, wo es eigentlich doch für mich ein bisschen überraschend ist, wie hoch die Wellen da schlagen. Denn derartige Thesen, wenn man jetzt mal von der spätrömischen Dekadenz absieht, was wirklich deplatziert ist, genau so, wie Sie das in der Anmoderation gesagt haben, so ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit des liberalen Denkens.
Und wenn mein Politologiekollege gerade gesagt hat, Wohlstand für alle sei die selbstverständliche Erwartung eines Sozialstaats, dann ist das ja eine berühmte Formel von Ludwig Erhard gewesen, die damals gerade mit Sozialer Marktwirtschaft und Leistungsprinzip verknüpft war, und nicht mit dem Sozialstaatsprinzip selbst. Also da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Insofern hat eigentlich Westerwelle, so ungeschickt er es natürlich angestellt hat, durchaus ein zentrales Problem benannt.
Timm: Was bedeutet denn für Sie Leistungsgerechtigkeit in einem sozialen Staat?
Bolz: Nun, Leistungsgerechtigkeit kann ja eigentlich nur bedeuten, dass tatsächlich Leute, die produktiv sind, einen Gewinn von dieser Produktivität haben, der auch ersichtlich ist und dass Umverteilungsmaßnahmen in einem gewissen Rahmen bleiben, der es noch lohnend erscheinen lässt, sich auf die Seite der Produktiven zu stellen und nicht nur auf die Seite der Konsumierenden. Trotzdem, denke ich, ist es der unglaubliche Gewinn, den unsere Sozialstaatlichkeit erreicht hat, dass Menschen, die, wie man heute so scheußlich sagt, abgehängt sind vom erfolgreichen Wirtschaften, trotzdem ein lebenswürdiges Dasein fristen können. Daran wird natürlich auch in Zukunft jeder festhalten. Also, wir sind meilenweit davon entfernt, dieses Grundprinzip der Sozialstaatlichkeit in Frage zu stellen.
Timm: Es entzündete sich ja auch viel an diesem Satz "wer arbeitet, der soll mehr haben als wer nicht arbeitet", der aber nun auch wieder so ein Gemeinplatz ist, dass ihn wirklich jeder unterschreiben kann. Aber bringt es wirklich etwas, wenn wir auf das Gemeinwohl gucken, wenn man jetzt Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger gegeneinander ausspielt, statt sich um einen Staat zu sorgen, dem, wie bei uns zur Zeit, schlicht langsam aber sicher die Mitte wegbricht?
Bolz: Das ist absolut richtig. Ich glaube, man kann die Probleme einer Gesellschaft, die im Umbruch ist, weil sie sich einem globalisierten Markt stellen muss, auch das ist ja mittlerweile ein Gemeinplatz, der aber selten wirklich nur mal in die Konsequenzen hinein durchdacht wird. Bei einer solchen Gesellschaft und ihren Strukturproblemen kann man natürlich Schuld nicht auf den schmalen Schultern derer abladen, die mit dieser Bewegung, mit dieser Entwicklung nicht mehr mitkommen.
Trotzdem, denke ich, ist es richtig, eine Diskussion anzustoßen, die eine Alternative versucht aufzuzeigen, zu der Art des politischen Denkens, an die wir uns in den letzten 20 Jahren gewöhnt haben, nämlich alle sozialen Fragen im Grunde nur über Umverteilung zu lösen. Also, wenn Westerwelle etwas Vernünftiges gesagt hat, dann hat er dies gemeint, dass man wahrscheinlich die sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts nicht über Umverteilung, sondern nur durch mehr Produktivität lösen kann. Und das heißt ja wahrscheinlich dann eben dann doch über das Prinzip der Leistung. Also prinzipiell muss man ihm wohl zustimmen; dass das Ganze natürlich ungeschickt und auch, ja durchaus unhöflich und deplatziert ist, ist eine andere Sache.
Timm: Aber ein gewisses Lob der Ungleichheit höre ich bei Ihnen durchaus heraus, oder?
Bolz: Selbstverständlich! Ohne Ungleichheit gäbe es überhaupt keine Motivation zur Leistung. Ungleichheit ist ja nicht nur etwas, was Ressentiments weckt, sodass man die anderen herunterziehen möchte, die erfolgreicher sind, sondern Gott sei Dank ist Ungleichheit ja auch etwas, was die Menschen anspornt, mehr zu erreichen, aufzusteigen. Allerdings, und das ist das entscheidende Problem heute, es müssen eben auch Aufstiegschancen da sein. Also nur, wenn soziale Mobilität nach oben überhaupt möglich ist, hat das Leistungsdenken einen Sinn. Aber das ist eben auch die Bedingung dafür, dass eine kapitalistische Gesellschaft auch in Zukunft noch funktioniert.
Timm: Aber dann ist es ja auch wieder eine etwas theoretische Diskussion, Herr Bolz, denn wenn es wirklich die Ungleichheit ist, die die anderen antreibt, es den, ich sag mal, den Erfolgreichen nachzutun, was hat dann dann die alleinerziehende Mutter von ihrem Ehrgeiz, nach oben zu kommen, wenn ihr der Kitaplatz fehlt, damit sie diesem Ehrgeiz nachgehen kann?
Bolz: Sie haben vollkommen Recht, aber Sie werden mir zugeben, auch das ist mittlerweile ein Stereotyp geworden. Die alleinerziehende Mutter ohne Kitaplatz ist mittlerweile genau so eine stereotype Sozialfigur wie die leistungsfähige Krankenschwester, die immer den zuviel verdienenden Managern entgegengestellt wird. Vielleicht ist das ein Problem unserer Diskussion, dass wir uns zu schnell auf sehr handgreifliche Stereotype einigen, die das Denken blockieren. Und deshalb ist es vielleicht ganz nützlich gewesen, dass ein so ungeschickter Mensch wie Westerwelle eine Diskussion mit einer gewissen Brutalität angestoßen hat, die vielleicht in unserer politisch korrekten Betulichkeit gar niemals in Gang gekommen wäre.
Timm: Allerdings sind diese Stereotypen, von denen Sie sprechen, in unserer Gesellschaft vieltausendfach vertreten.
Bolz: Selbstverständlich ...
Timm: Also ganz real.
Bolz: Stereotypen sind immer real. Das sind nicht Vorurteile im Sinne von Gegenstandslosigkeit, sondern das sind nur Figuren, die sehr plastisch sind, die in ihrem Schicksal sehr eindringlich sind und die einem deshalb auch ein bisschen das Denken verstellen. Um es ganz simpel zu sagen, so wirklich schrecklich und bedenklich das Schicksal der Hartz-IV-Empfänger ist: Wir müssen auch zugeben, und das hat glaube ich Westerwelle gemeint, dass wir in den letzten Jahren über nichts anderes mehr gesprochen haben, wenn wir über die Zukunft der modernen Gesellschaft diskutiert haben. So gewichtig dieses Problem ist, so ernst zu nehmen und so souverän das gelöst werden muss durch den Sozialstaat, darin liegt sicher nicht die Lösung der Anpassung einer modernen Gesellschaft an eine globalisierte Welt. Die muss in der Produktivität und letztlich in der Leistung liegen. Und ich kann nur hoffen, dass Westerwelle genau das gemeint hat.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit dem Soziologen Norbert Bolz über die derzeitige Diskussion um soziale Gerechtigkeit in unserem Land. Herr Bolz, wenn wir mal an die 70er-Jahre zurückdenken, da galt es als ehernes Prinzip, dass von Zuwächsen immer auch die Schwächsten profitieren. War das so dumm? Die Gesellschaft scheint ja im Rückblick damals doch ausbalancierter gewesen zu sein?
Bolz: Vollkommen richtig. Das war ja auch noch nicht die globalisierte Gesellschaft der Gegenwart. Wir hatten noch zwar nicht abgeschottete, aber einigermaßen stabile Arbeitsmärkte und in der Tat gab es damals auch einen durch Erfolg der Wirtschaft getragenen Grundkonsens. Allerdings muss man sehen, dass genau diese Konzeption – der Kooperation von Wirtschaft und Staat – eben wenige Jahre später, schon in den 80er-Jahren, schlechter funktioniert hat und allmählich Krisensymptome gezeigt hat.
Das heißt, wir haben plötzlich bemerkt, wie hoch der Preis ist für den Sozialstaat, der uns bisher diese wunderbar balancierte Welt bis in die 70er-Jahre hinein geboten hat. Also das hat einen sehr prosaischen Hintergrund, diese Differenz, nämlich die Frage nach der Bezahlbarkeit.
Wenn Sie etwa an das Gesundheitswesen denken, wunderbare Fortschritte in der Möglichkeit, Menschen in der Gesundheit zu stützen, ihnen technisch weiterzuhelfen, aber verbunden mit gewaltigen Kosten, die aufzubringen eigentlich niemand mehr bereit und in der Lage ist. Also das sind reale, prosaische Probleme der Finanzierung des Sozialstaates, darüber gibt es eigentlich auch gar keinen Zweifel.
Timm: Lassen Sie uns noch mal bleiben bei Guido Westerwelle und seinen Thesen. Er hat ja viel Kritik einstecken müssen auch aus den eigenen Reihen, auch aus den Reihen des Koalitionspartners. Zum Beispiel heißt es in der ostdeutschen CDU, man soll nicht wieder auf die wenigen Schwarzen Schafe gucken, die den Sozialstaat melken und die jeden Sozialstaat ausnutzen würden, sondern sich endlich dem Problem stellen, das wir wirklich haben, nämlich schlicht nicht genug Arbeit für alle, die Arbeit haben wollen. Vielleicht sind diese Stimmen einfach näher an der Realität?
Bolz: Da stimme ich hundertprozentig zu, ich bin auch dieser Auffassung. Aber das ändert nichts daran, dass eine Grundsatzdiskussion ansteht, die Westerwelle vielleicht mit anstoßen könnte, nämlich die, wie das große soziale Problem unserer Zeit zu lösen ist, und da müsste es zu einer Konfrontation kommen zwischen der sozialdemokratischen Position der Umverteilung und der liberalen Position der wachsenden Produktivität. Wenn das ein Resultat der Intervention von Westerwelle wäre, dann hätte er zwar der FDP geschadet, aber er hätte vielleicht dem geistigen Klima in unserem Land sehr gut getan.
Timm: Wie viel Leistung darf man den Schwächeren abverlangen, wie viel Schutz muss ein Sozialstaat gewährleisten? Darüber diskutieren wir in dieser Woche im "Radiofeuilleton", heute mit dem Soziologen Norbert Bolz. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Bolz: Sehr gerne!