Böse Spiele?

Von Carlos Widmann |
Schönheitsfehler der blutigen Sorte, bevor die olympische Flamme ins Stadion getragen wird - das hat es schon gegeben, der Gastgeber China ist da kein Einzelfall. Denken wir zurück an die Eröffnung der Spiele von 1968 in Mexiko - der prächtigen Feier ging ein brutaler Akt staatlicher Gewalt voraus.
Es geschah am 2. Oktober 68, als bereits der Einzug der Athleten in das Olympische Stadion von Ciudad de México geprobt wurde. Die Weltpresse war längst in die Hauptstadt eingefallen. Von der ewigen Diskussion aber, wie sich die Höhe von 2300 Metern auf die Leistung der Sportler auswirken werde, lenkte plötzlich, überraschend, die politische Wirklichkeit des Landes ab: Studenten demonstrierten gegen die Revolutionspartei, die Mexiko seit einem halben Jahrhundert mit eiserner und korrupter Hand beherrschte.

Spielverderber, Protestler, die das Image Mexikos vor aller Welt besudelten? Hier musste der Staat doch eingreifen, die Bewegung im Keim ersticken. Das geschah an jenem 2. Oktober - ausgerechnet auf dem Platz der Drei Kulturen, wo auf dem Fundament eines Aztekentempels sowohl die spanische Kolonialzeit wie das moderne Mexiko vereint sind. An die fünftausend Studenten waren noch versammelt, als Leuchtkugeln gespenstisches Licht verbreiteten und Pistoleros das Feuer eröffneten.

Die Weltpresse nahm Kenntnis, das Massaker sorgte für Schlagzeilen. Ob es tatsächlich 500 Tote waren, wie zuerst berichtet wurde, oder doch eher 39 – die Wucht staatlicher Gewalt bereitete jedenfalls dem Protest ein Ende. Die Verhaftungswelle danach schwemmte Tausende Studenten und Aktivisten in die Gefängnisse – oftmals auf Jahre.

Und dennoch: Eine Woche später war das blutige Ereignis vergessen. Mexiko wurde während der olympischen Eröffnungsfeier von patriotischer Euphorie gepackt. Die Geigen und Trompeten der Mariachi-Kapellen überdeckten mit ihrem Jubel die Klagen der Hinterbliebenen und der Gefolterten. Und die "Jugend der Welt" machte freudig mit: keine Rede mehr von Boykott oder Protest. Die Spiele wurden für Mexiko ein Riesenerfolg, ein farbenfrohes, fröhliches Fest.

Nun ja, denken wir an die Spiele von 1936, Gastgeber: Adolf Hitler. Auch sie stellten für das Regime einen Triumph dar. Der Versuch, Olympia in Berlin zu boykottieren, scheiterte sogar in den USA. Die Teilnehmerzahl, 49 Nationen, war für damals ein Rekord. Selbst ausländische Mannschaften zogen durchs Stadion mit ausgestrecktem rechten Arm – das nannte sich "olympischer Gruß". Die Nazis hatten verkündet, alle Rassen und Konfessionen seien willkommen, der schwarze Läufer Jesse Owens war bei deutschen Jungen der beliebteste Athlet, rabiate Antisemiten wurden in Schutzhaft genommen. So ließ die Welt sich von den Nazis blenden: Die Berliner Spiele gingen als Friedensfest über die Bühne.

Der Sowjetunion erging es 1980 nicht ganz so gut, doch auch sie durfte sich am Ende als Sieger fühlen. Da ihre Panzer gerade in Afghanistan eingefallen waren, musste Leonid Breschnew mit einem US-Boykott rechnen, dem sich mehrere Länder anschließen sollten. Besonders schmerzlich war für Moskau der Wegfall der Sportgiganten USA, Bundesrepublik Deutschland und Kanada. Andere Länder boykottierten nur die Eröffnungsfeier oder verweigerten das Hissen ihrer Flagge. Doch die Kremlherrscher fanden Trost: Mit 36 Welt- und 74 olympischen Rekorden waren es dennoch "große" Olympische Spiele geworden.

Danach folgten ein Vierteljahrhundert lang unproblematische Gastgeber wie Barcelona, Sydney, Athen ... Aber bei "Peking 2008" hätte man von Anfang an mit menschenrechtlichen Problemen rechnen sollen. Nicht nur deshalb, weil es in China unterdrückte Minderheiten gibt – die Tibeter sind nur eine davon –, sondern weil der frische Kapitalismus zwar allerhand Liberalisierung erzwingen, aber weder Freiheit noch Demokratie erschaffen kann.

Ein Bild hätte den Rest der Welt warnen sollen - ein Bild, das in allen Klassenzimmern Chinas hängt, sich in den Glitzerfassaden der Großstädte spiegelt und über den Sport-Arenen schweben wird: das Götzenbild des Mao Zedong. Chinas Modernisierung hat keine Verurteilung, ja nicht einmal eine Distanzierung vom Gründervater und Massenmörder bewirkt. Dahinter steckt Furcht vor einer Generalabrechnung. Kein anderes Monster des 20. Jahrhunderts hat die Massen so intensiv an den eigenen Verbrechen beteiligt wie Mao – und der letzte Exzess, die Kulturrevolution der sechziger Jahre, fand ihre willigen Vollstrecker in der Generation, die heute Partei und Regierung beherrscht.

Boykott oder nicht Boykott? Dieses wohl unlösbare Dilemma könnte als chinesische Tortur bis zum Beginn der Spiele anhalten. Der Zwang der olympischen Ringe, der gehörige Respekt vor der wirtschaftlichen Supermacht China, die Verpflichtungen gegenüber Medien, Werbung, Sportindustrie und Tausenden von Athleten – all das engt den Spielraum für moralische Empörung ein. Kaltblütig zieht China eiserne Vorhänge zu, um Tibet und andere Krisengebiete den Blicken der Weltöffentlichkeit zu entziehen. Umso leichter für die Welt des Sports, nun wie gehabt nach der Parole zu handeln: Augen zu und durch. Die Medaillen warten.

Carlos Widmann, Journalist, geboren in Buenos Aires, war 30 Jahre lang Redaktionsmitglied und Auslandskorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" sowie zwölf Jahre lang Reporter und Kolumnist beim "Spiegel". In seiner Zeit als Italien-Korrespondent der SZ erhielt er den Internationalen Journalistenpreis der Stadt Rom. Heute lebt er als freier Autor in Umbrien und Paris.
Carlos Widmann
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