Bodenständige Erzählungen mit Honigduft

28.11.2007
Regina Ullmanns Erzählungsband "Die Landstraße" erschien erstmals 1920 und brachte ihr Bewunderer wie Hermann Hesse oder Rainer Maria Rilke ein, der auch ihr Förderer wurde. Mit archaischer Kraft und geschärften Sinnen schreibt sie stets von den einfachen Dingen ländlichen Lebens, einem Leben in anderem Tempo.
So wie sich in den ersten Minuten zwischen fremden Menschen Nähe oder Distanz herstellt, entscheiden die ersten Sätze eines literarischen Textes darüber, ob man weiter liest. "Sommer, aber ein jüngerer Sommer als dieser; ein Sommer, an Jahren noch gleichaltrig mit mir, war damals." Regina Ullmanns Erzählung "Die Landstraße" beginnt mit diesem Satz und markiert jene Hürde, die es zu überwinden gilt, wenn man sich auf eine Lektüre einlässt. Denn was Ullmann ihrem Leser abverlangt, hat sie sich in einem mühevollen Schreibprozess selbst abgerungen.

1884 im schweizerischen St. Gallen als Tochter eines jüdischen Geschäftsmannes geboren, scheint sie nicht in die Zeit zu passen. In allem wirkt sie gebremst. Das Lernen fällt ihr schwer und ihre Motorik ist extrem langsam, so als stünde ihr "etwas im Wege". Das schreibt sie später wie über sich selbst in der Erzählung "Von einem alten Wirtshausschild". Sie spricht wenig, schließlich nur in stockenden, stotternden Sätzen. Aus mütterlicher Fürsorge wird sie deshalb in eine Privatschule für "gehemmte" Kinder geschickt.

Allerdings verfasst Regina Ullmann, als sie schreiben kann, Gedichte und Prosa, so dass bereits 1907 ihr erstes Buch, die "Feldpredigt", veröffentlicht wird. Nach Gedichten (1919) erscheint 1921 dann der Erzählungsband "Die Landstraße". Peter von Matt hat die ursprüngliche Fassung des Bandes jetzt in der Kollektion Nagel & Kimche vorgelegt, ergänzt mit einem Nachwort von Peter Hamm. Die elf Erzählungen stellen eine reiche Ausbeute dar, denn neben der Titelerzählung "Die Landstraße" sind darin die mit höchstem Lob bedachten Erzählungen "Von einem alten Wirtshausschild", "Die Maus" und "Der Bucklige" enthalten.

Überhaupt gab es reichlich Bewunderung von Zeitgenossen für Ullmanns unverwechselbare Handschrift. Hermann Hesse schwärmte, es dufte in ihrer Dichtung nach Brot und Honig, nach Kerze und Weihrauch. Rainer Maria Rilke, ein aktiver Förderer der Dichterin, nannte die "Feldpredigt" etwas "Schönes, Wahres, Einfaches" und gab damit eine Einschätzung, die auf das Gesamtwerk zutrifft.

Regina Ullmann schreibt stets von den einfachen Dingen bodenständigen Lebens, das sich in ländlichen Regionen, abseits städtischer Urbanität vollzieht. Dort nimmt ihr Blick die Schwachen, Beschädigten, Kranken ins Visier, die ihr eigenes Tempo haben und deren Sinnesorgane eine andere Schärfe als die von Städtern besitzen. Eingebettet in die Farbenpracht blühender Vegetation und umgeben von heimeligen Gerüchen, die ärmlichen Schwarzküchen entströmen, wird die Schwere ihres Daseins als Wertschätzung verstanden.

So entführt die Erzählung "Der Bucklige" in das "Mysterium der Geigen". Dort lebt und arbeitet ein buckliger Geigenbauer, dessen kleine Stube nicht nur zum Inbegriff der "kindlich frommen Welt des Handwerkers" wird, sondern auch zur Heimat. Mit dem Eintritt in dieses Refugium geschehen mit dem Erzähler wunderbare Dinge.

Bei Regina Ullmann finden sich sprachliche Bilder, die von archaischer Kraft sind. Ihre ganze Widerständigkeit wird erst in der Konfrontation mit der Zeit, in der sie entstanden sind, deutlich. Diese Zeit aber ist nicht vergangen, denn in Ullmanns literarischem Werk ist die nackte Kreatur der eigentliche Akteur.

Rezensiert von Carola Wiemers

Regina Ullmann: "Die Landstraße"
Erzählungen. Mit einem Nachwort von Peter Hamm.
Nagel & Kimche 2007.
181 Seiten. 19,90 Euro