Blues einer alten Stadt

Von Jonathan Fischer |
Ein geschrumpftes New Orleans setzt auf seine Traditionen: So soll demnächst im Louis Armstrong-Park ein Freiluftmuseum zur Geschichte des New Orleans Jazz entstehen. Im Januar wird die Stadt für Besucher wiedereröffnet. Spätestens zum Jazzfest im April sollen Tausende von Musikfans in die Stadt zurückfinden.
Wynton Marsalis (Musik): "The Death Of Jazz"

Selbst aus der Luft zeigt die Stadt ein neues Gesicht. Beim Landeanflug auf New Orleans leuchten Tausende blauer Rechtecke - keine Swimmingpools, sondern die Planen, mit denen die Katastrophenhelfer zerstörte Dächer notdürftig versiegelt haben. Das Licht über dem Mississippi-Delta ist noch immer so gleißend wie eh und je.

Sonst aber liegt ein merkwürdiger Schleier über der Stadt: Und das selbst im Garden District, wo nichts überflutet wurde, die prächtigen Kolonialvillen unversehrt stehen und auf den ersten Blick nur die vielen Müllsäcke, ausrangierten Küchengeräte und abgebrochenen Äste am Straßenrand irritieren. Doch schon beim zweiten Blick - oder dem Befahren einer der weniger noblen Nebenstraßen - wird klar, dass es auch in Uptown vor allem die Ärmeren getroffen hat. Faustregel: Je weniger prestigeträchtig das Haus, umso eher ragen Holzlatten aus dem Dach, liegen eingestürzte Ziegelmauern auf der Straße, hängen windschiefe Balkone vor eingedrückten Fensterscheiben.

Hier hat auch Irvin Mayfield gewohnt - bis Katrina sein Haus abdeckte. Jetzt lebt der Grammy nominierte Jazztrompeter wie viele andere Evacuees in einem Hotel. Als offizieller Kulturbotschafter von New Orleans und Sprecher der örtlichen Musiker steht er vor seiner bisher größten Mission:

"Als die Dämme brachen, da wurde nicht nur eine Stadt überschwemmt, sondern auch eine große kulturelle Tradition... Jetzt kämpfe ich darum, unsere größte natürliche Ressource nach New Orleans zurückzubringen: den Jazz. Wir müssen die Musiker zur Rückkehr bewegen, ihnen die Chance geben, in New Orleans zu überleben."

Dr. John (Musik): "Jak-Emo-Fina-Hey"

Die ersten Clubs haben bereits wiedereröffnet. Die meisten einheimischen Musiker überwintern im Exil. Touren mit geliehenen Instrumenten. Warten, bis sie zumindest eine Wohnung angeboten bekommen. Wie etwa Dr. John, die Neville Brothers, Fats Domino, Harry Connick Jr. oder die Rebirth Brass Band.
Die Aufräumarbeiten in der Stadt laufen zwar auf Hochtouren. Doch noch immer zeigen viele Geschäfte Spuren der Plünderer. Und auf der gesamten Einkaufsmeile des Garden Districts hat erst ein Coffeeshop wieder geöffnet. Schon um sieben Uhr morgens stehen die Menschen vor der Tür Schlange.

Manche suchen hier die wärmende Gesellschaft anderer Rückkehrer oder checken bei fünf Dollar-Cappucinos die Mails auf ihren Laptops. Die Preise haben kräftig angezogen. Post-Katrina-Inflation nennt es die örtliche Presse. Trotzdem murrt niemand. Jeder geöffnete Laden gilt als kleiner Sieg.

"Beignets are back" verkündet eine Banderole vor dem Café Du Monde. Seit kurzem wird hier, unter einer grünen Markise zwischen Jackson Square und Mississippi wieder serviert: Chicoree-Kaffee und in Schmalz gebackene "Beignet"-Krapfen. Auf dem gegenüberliegenden Karree haben sich die ersten Kleinkünstler eingefunden.

Ein Maler unter einem Strohhut bannt die French Quarter-Kulisse auf seinen Block. Zwei Hippie-Typen verkaufen selbstgebastelten Schmuck. Und ein Handleser bietet seine Dienste an. Kundschaft gibt es noch kaum. Aber was kann man angesichts einer traumatisierten Stadt schon besseres tun, als die alten Geschäfte wiederaufzunehmen?

Dirty Dozen Brass Band (Musik): "I Shall Not Be Moved"

In der St. Claude Street im Treme Viertel haben sich ein paar hundert Menschen zur ersten Second Line Parade nach Katrina versammelt. Hier schlägt seit jeher das kulturelle Herz des schwarzen New Orleans: Das Viertel hat Dutzende berühmter Jazzvirtuosen, Brassbands und Rhythm'n Blues-Sänger hervorgebracht. Abseits des Touristenrummels der Bourbon Street treffen sich hier in Spelunken lokale Musiker zu hochkarätigen Jamsessions.

Mayfield: "Jedermann ist hier auf irgendeine Weise Musiker und Künstler. Entweder kochst du, singst du oder tanzt du. Frag einmal im Treme Viertel nach einem Tubaspieler, und es werden sich Achtjährige melden, die Songs von 1920 auf dem Kasten haben.

Das ist in den verarmten Nachbarschaften keine Seltenheit: Du kannst bei uns in den Projects Typen mit Gold-verblendeten Zähnen und HipHop-Kleidung finden, die jede Zeile rezitieren können, die Louis Armstrong mal gesungen hat. Und dazu alle Jelly Roll Morton Songs. Das ist der Teil unserer Kultur, den Touristen niemals zu Gesicht bekommen."

Eine aus vielen Brassbands bunt zusammengewürfelte Musikertruppe setzt sich in Bewegung. Manche mit geliehenen Instrumenten, andere in unvollständiger Uniform. Doch das tut der Begeisterung der Second Line keinen Abbruch. Im Rhythmus solcher Klassiker wie "Lil' Liza Jane" folgen die zurückgekehrten Nachbarn dem Wummern der Tuba. Tanzen zu donnernden Bläserriffs an windschiefen Häusern, ausrangierten Kühlschränken und zugenagelten Fensterhöhlen entlang. Schwenken bunte Sonnenschirme.

Und springen johlend auf die Dächer der vom Sturm zerbeulten Autos. Die begleitende Polizeistreife lacht nur. Auch für sie symbolisiert der Zug durch das einst von Drogenkriegen gebeutelte Armenviertel ein Hoffnungszeichen. "Du sollst nicht töten" steht an einer Hausfassade gepinselt. Doch seit Katrina ist die Kriminalität auf Null gesunken. Father Ledoux, der grauhaarige Seelsorger der örtlichen St. Augustine Church, jedenfalls glaubt fest an einen Neuanfang:

"Ich habe viele Menschen Schlechtes über New Orleans sagen hören. Und es gibt gute Gründe dafür: Die Armut, die Rückständigkeit, die unsaubere Politik und miserable Wirtschaftslage. Viele haben New Orleans deswegen verlassen. Aber sie sind wie Zugvögel. Nach einiger Zeit kehren sie zurück. Weil sie nirgends finden, was ihnen diese Stadt gibt."