Blog "Geschichte der Gegenwart"

Schweizer Historiker mischen Debatten auf

Screenshot Historiker-Blog "Geschichte der Gegenwart"
Der Blog "Geschichte der Gegenwart" versucht sich an aktueller Zeitdiagnose © Geschichte der Gegenwart
Von Philipp Schnee · 02.08.2017
Eine Gruppe Schweizer Historiker greift im Blog "Geschichte der Gegenwart" angriffslustig umstrittene aktuelle Themen auf und ordnet sie historisch ein. "Wir möchten als Intellektuelle in die öffentliche Debatte intervenieren", erklärt einer der Herausgeber.
Der Ruf nach dem "öffentlichen Intellektuellen", immer wieder schallt er durch die Medienlandschaft. Die Gelehrten sollen raus aus den Elfenbeintürmen, rein in die öffentliche Debatte. Einige Züricher Wissenschaftler haben vor gut einem Jahr den Sprung gewagt.
In ihrem Blog "Geschichte der Gegenwart" melden sie sich zu aktuellen Themen zu Wort.
Beispiel: Was sind eigentlich "Tabus"? Der "Tabubruch" gilt plötzlich als positiv, und man fragt sich, was Tabus eigentlich sind und wie sie entstanden sind
"Der Tabubegriff wurde 1784 aus dem Polynesischen nach Europa importiert. In den traditionellen Tabukulturen meint das Tabu etwas Unaussprechliches oder Unberührbares, auf jeden Fall etwas, das keine positive Bedeutung haben kann. Der Tabubruch war folglich etwas ganz und gar Verwerfliches, etwas, das so abscheulich war, dass es eigentlich nicht einmal gedacht werden konnte."
Anderes Beispiel: Aufklärung. Wir leben in einer Zivilisation, die sich aufgeklärt nennt und für aufgeklärt hält. Aber: Wieviel Rationalität und Irrationalität steckt eigentlich in der "Aufklärung", die heute sehr gerne verteidigt wird? Welchen Zweck erfüllen Verschwörungstheorien – in Diktaturen, aber auch in Demokratien? Der Blog "Geschichte der Gegenwart" versucht sich an aktueller Zeitdiagnose:
"Wir möchten nicht Wissenschaftspopularisierung machen, sondern wir möchten als Intellektuelle in die öffentliche Debatte intervenieren."
Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin ist einer von sieben Herausgeberinnen und Herausgebern, Kultur- und Sozialwissenschaftlern aus Zürich.
"Es ist unsere Aufgabe als bezahlte Intellektuelle, als von der Universität angestellt, nicht nur unsere Studierenden auszubilden, sondern auch in der Öffentlichkeit unsere Stimme zu erheben."
Wer als Journalist auf der Suche nach Gesprächspartnern an Universitäten, in der Wissenschaft ist, weiß, dass dies keine selbstverständliche Einstellung ist. Nicht jeder universitäre Experte hat Interesse an einem Wirken für die Allgemeinheit.

Sorge um die Meinungsvielfalt

Doch bei den Züricher Wissenschaftlern kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: die Sorge um die Meinungsvielfalt. Die deutsch-schweizer Medien, allen voran die großen Tageszeitungen in Basel und Zürich, seien immer stärker unter dem Einfluss von Rechtspopulisten, sagt Sarasin:
"Christoph Blocher, Roger Köppel in der Weltwoche, auch die NZZ, dort wo sie sehr stark nach rechts tendiert, wird von uns angegriffen. Es gibt keine neutrale Position in diesen Debatten. Und wir sind nicht Wissenschaftler, die sich auf eine imaginäre Position zurückziehen können: 'Wir sind rein objektiv' - das gibt es in diesen Feldern nicht."
Wissenschaftliche Neutralität: darauf möchte sich Sarasin im Blog nicht beschränken lassen. Parteipolitisch unabhängig, das ja, aber auch dezidiert politisch, so sieht sich "Geschichte der Gegenwart".
"Ich glaube, wir verteidigen sehr dezidiert einen liberalen Rechtsstaat, eine liberale Gesellschaft, eine offene Gesellschaft. Wir haben sehr viel publiziert zu Trump, zum Rechtspopulismus in der Schweiz."

Rund ein Viertel der Leser kommt aus Deutschland

Obwohl viele Themen wie "Welcher Islam? Zum Islam in Feuilleton und Forschung", "Die autoritäre Logik des Populismus" oder "Sex als Kulturkampf" an aktuellen Debatten in der Schweiz aufgehängt sind und sich zunächst an ein Schweizer Publikum richten, kommt rund ein Viertel der Leser aus Deutschland.
Denn die Texte bieten häufig mehr als tagesaktuelle Analysen. Es sind Versuche intellektueller Zeitdiagnose aus dem Blickwinkel und mit Hilfe des Instrumentariums des Kulturwissenschaftlers. Feuilleton mit einem Ansatz, der dem von Michel Foucault ähnelt: So wie Foucault ein "Ethnologe seiner eigenen Kultur" sein wollte, sind die Autoren von "Geschichte der Gegenwart" als Historiker ihrer eigenen Zeit unterwegs.
Sarasin: "Es ist also der Versuch, dieses Instrumentarium zu gebrauchen, ohne es allzu sehr in den Vordergrund zu stellen. Zentral, aus meiner Perspektive als Historiker, ist ein historischer Blick, ein genealogischer Blick. Wir machen das ganz stark über die Kategorie der 'Reizworte'. Wir haben so eine Art, man könnte auch sagen, Begriffsgeschichten, wo wir Worte, die so im Umlauf sind wie 'Kulturkreis' oder 'Populismus' oder 'Flüchtling' oder 'Fakten', aufspießen und eine Geschichte und Analyse dieses aktuell wichtigen Begriffs leisten."
Zwei Beiträge pro Woche stellen die Herausgeber auf ihre Seite. Grafik und technische Betreuung werden über Mittel einer Schweizer Stiftung für Medienvielfalt finanziert. Geschrieben wird ehrenamtlich. Auch das Redigieren der Texte, auf das die Herausgeberinnen besonders achten, ist unbezahlte Freizeitarbeit.
Die Texte sollen gut verständlich sein, sie sollen nicht durch theoretische und sprachliche Distinktion abschrecken.
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