Blick zurück im Zorn

16.02.2009
Es sind unangenehme Erinnerungen, mit denen sich die Autorin Susanne Schädlich auseinandersetzen muss: Ihr Vater wurde von seinem Bruder bespitzelt und an die Stasi verraten. Entsprechend kühl ist ihre Reaktion, als der Onkel sich erschießt - sie wählt den Selbstmord als Einstieg in die Geschichte einer geschundenen Familie.
Die Widmung des Buches sagt es schon: "Für meine Schwester, für meine Mutter, für meinen Vater". Es ist ein Buch, das die Berliner Schriftstellerin und Übersetzerin Susanne Schädlich ihrer Familie gewidmet hat – genauer: den Familienmitgliedern, die sie dazu zählt. Ihr Onkel gehört nicht mehr dazu.

Er hat einen fast schon biblischen Verrat an seinem Bruder begangen. Er hat ihn an die Staatsmacht verraten. Er hat nicht nur ihn, sondern auch viele andere DDR-Intellektuelle als hochaktiver Stasi-Mitarbeiter bespitzelt und belogen. Damit hat er dessen Familie das Leben in der DDR praktisch unmöglich gemacht.

Der Name des Onkels: Karlheinz Schädlich. Sein Tod: Wenige Tage vor Heiligabend des Jahres 2007. Auf offener Straße hat er sich erschossen. Offenbar konnte er mit seiner Schuld nicht mehr leben, und vielleicht auch nicht mit der Unversöhnlichkeit derer, denen er geschadet hatte. Seine Nichte beschreibt zu Beginn ihres Buches seinen Selbstmord äußerst kühl.

"Ein Schuss in den Mund.... Ein Mann tot auf einer Bank."

Keine Trauer, kein Mitleid. Susanne Schädlich ist unversöhnlich, bis heute. Sie erzählt, wie sie von dem Verrat 1992 erfuhr und bis zum Tod des Onkels kein Wort mehr mit ihm sprach - 15 Jahre lang kein einziges Wort. Sie wollte ihn "aus dem Bewusstsein löschen", aber vergeblich. Erst als er tot war, begann die Autorin zu schreiben.

Sie erzählt die Geschichte der Ausreise, der Stasi-Nachstellungen auch im Westen, der schwierigen ersten Jahre nach der Auswanderung. Mit dem Onkel sprach sie über alles, sie vertraute ihm:

"Er war für mich wie ein zweiter Vater."

Zwischen heute und jener Zeit liegen Abgründe.

Wie begann es? Susanne Schädlich wuchs als Tochter des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich in einer fünfköpfigen Familie im Ostberlin der 70er-Jahre auf. Ein größerer Bruder, eine jüngere Schwester gehören noch dazu. Die Eltern, ihre Mutter war Lektorin, verbargen kaum ihre Distanz zum politischen System, protestierten gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann und wurden Ende 1977 mit der Familie aus dem Land getrieben - der Onkel behielt sie jedoch weiter im Visier.

Susanne Schädlich gelang es nur schwer, im Westen Fuß zu fassen, erst nach vielen Jahren, weit weg in den USA stabilisierte sich ihr Leben wieder. 1999 kam sie ins längst vereinte Deutschland zurück.

Es ist die Geschichte einer geschundenen Familie und der schwierigen Selbstfindung einer jungen Frau - eine Geschichte von Menschen, die versuchen ihre Existenz fest zuhalten, und die ihnen dennoch um die Ohren fliegt.

Aber was hat der Leser von ihrem Buch? Viel, aber deutlich weniger als die Autorin selber. Dieses Buch erscheint als eine Selbstvergewisserung, eine Fragmentsammlung aus der eigenen Biografie. Sie selbst bekennt im Buch:

"Ich sollte abstrahieren, darüberstehen, kühl und sachlich. Das gelingt nicht immer."

Was man nur bestätigen kann. Niemand verlangt durchgehend Sachlichkeit angesichts dieser Lebensgeschichte, aber eine Mindestdistanz zum Geschehen, den Willen, der Geschichte eine stringentere Form zu geben - das darf man erwarten. Susanne Schädlich überhäuft uns etwa mit Details aus den Stasi-Akten - jede zuständige Abteilung, jedes Datum wird erwähnt und man fragt sich: wozu?

Dafür erfahren wir kaum etwas über ihre eventuellen Zweifel am Onkel vor seiner Enttarnung, kaum etwas über die Trennung der Eltern, fast nichts über den Bruder, der im Osten blieb, wenig über die kleine Schwester, die doch sicher nach Erklärungen verlangte, nicht einmal Details aus den zahlreichen prominent besetzten Schriftstellertreffen, deren Zeugin Susanne Schädlich wurde.

Vielleicht stehen dem geltend gemachte Persönlichkeitsrechte entgegen - aber dennoch: Überall nur Andeutungen. Das mag für Literatur eine richtige Schreibhaltung sein, aber nicht für ein Sachbuch. Eindrücklich hingegen erleben wir die Drangsalierungen der Stasi, die den Leser immer wieder an den menschenverachtenden Charakter dieses "Dienstes" erinnern. Und daran, wie er es vermochte, Freundschaften zu beenden und Familien auseinander zu treiben.

Bei aller Kritik legt Susanne Schädlich dennoch einen beachtenswerten Beitrag zum Wendejubiläum in diesem Jahr vor: eine Abrechnung mit dem System, das sich sozialistisch nannte, aber vor allem darauf bedacht war, Menschen gefügig zu machen.

Rezensiert von Vladimir Balzer

Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich
Droemer Verlag, 2009
240 Seiten, 16,95 Euro