Blick zurück
Ihre Schwester hat sich in New York das Leben genommen. Nun macht sich die Erzählerin in Julia Schochs Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" daran, die Lebensgeschichte der Verstorbenen zu rekonstruieren. Es geht um das Aufwachsen in der DDR, den Fall der Mauer und um eine längst vergangene Liebesgeschichte.
Ein schwebender Ton, der ungeheuer nüchtern klingt und zugleich vor unterdrücktem Pathos förmlich vibriert, macht vom ersten Satz an neugierig auf diesen Roman. Julia Schoch sagt gleich, was Sache ist. Die Schwester der Erzählerin hat sich in New York umgebracht. Zugleich aber eröffnet sie einen Hallraum von Möglichkeiten, der dem Leser signalisiert, dass ihm hier nicht einfach eine realistische Geschichte geboten werden wird. Eher eine Spekulation, eine Meditation, eine Nachforschung nach dem Muster: So könnte es gewesen sein.
"Bevor meine Schwester sich in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf."
Darum wird es auch im Folgenden gehen: um das Bild, das sich eine Frau von einer anderen macht. "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" erzählt von einer Jugend in der DDR, vom Wunsch nach Freiheit, von den Zeiten des Übergangs und der Enttäuschung.
Und all dies ist zugleich Kulisse für ein Theaterstück ganz anderer Art: Julia Schoch inszeniert noch einmal das große Schauspiel vom weiblichen Begehren. Bis hinein in den Ton und die Syntax ähnelt dieser Roman dem "Liebhaber" von Marguerite Duras. Der Mann, der den Ruf des Begehrens verkörpert, ist hier kein reicher Chinese, sondern ein Soldat der Nationalen Volksarmee. Die Schwestern nennen ihn auch dann noch "Soldat", als er längst keiner mehr ist.
Die Erzählerin war gerade im Begriff, für eine Asien-Reise zu packen, als sie der Anruf der Schwester erreichte, bei dem sie ihr mitteilte, sie habe die Beziehung zum "Soldaten" beendet. Als sie nach vier Wochen zurückkehrt, findet sie die Nachricht vom Tod der Schwester vor und eine letzte Postkarte, darauf eine Madonna mit Kind und ein paar nicht besonders begeistert wirkende Sätze. Also beginnt sie mit der Rekonstruktion dessen, was sie für die Lebensgeschichte ihrer Schwester hält. Die Erzählungen vom Soldaten stecken darin wie ein "Markierungspfeil".
Die beiden Schwestern wuchsen in einer kleinen Garnisonsstadt auf, einem Militärstützpunkt, nur wenige Kilometer von Stettin entfernt. Als die Schwester den Soldaten kennenlernte, war sie noch jung. Eine Szene, von der die Erzählerin weiß, dass sie nach einem Klischee klingt, tausendmal abgenudelt in Büchern und Filmen, brachte das Paar zusammen. Der Soldat wurde verprügelt, dabei fiel ihm ein Buch aus der Tasche, das die Schwester ihm stumm zurückreichte. Es war von Hemingway, wie wir später erfahren. Anspielungen auf den amerikanischen Autor James Salter komplettieren das Bild.
Die 1974 in Bad Saarow geborene Autorin ist in der westlichen Literatur mindestens so sehr beheimatet wie in der Literatur der DDR. Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T." ist zwar als Echo in diesem Roman vorhanden, aber es klingt wie aus weiter Ferne.
Dem Soldaten hat sofort die "Wildheit" gefallen, mit der sich die Schwester ihm auf einem Getreidefeld hingab. Damals war sie seine Rettung, eine Flucht aus dem erstickenden Engegefühl der Kaserne. Sie haben sich ein paar Mal getroffen, irgendwann ist er einfach verschwunden. Es gab andere Männer und im Frühjahr 1989 die erste Schwangerschaft. Kurz vor der Wende dann die erste eigene Wohnung mit dem frisch Angetrauten im selben Ort. Als sich das zweite Kind ankündigt, ist der Umbruch längst geschehen. Die Familie zieht in ein Haus am Waldrand. Es ist dieses Bild, das der Erzählerin im Gedächtnis bleibt: Wie ihre Schwester abends noch Säcke mit Müll vors Haus trägt und verloren einen Blick zum Wald wirft.
Nach vielen Jahren meldet sich der Soldat wieder. Und nun verkehren sich die Rollen. Denn nun sitzt sie in ihrem Leben fest und er ist ihre Rettung – ein Lichtblick, eine Erinnerung an die eigene Wildheit und Jugend, an die Zeit, in der noch alles möglich schien.
"Mit der Geschwindigkeit des Sommers" ist vor allem atmosphärisch stark. Julia Schoch verbindet persönliche und politische Enttäuschungsgeschichte. Das unvermeidliche Pathos bei der Beschwörung weiblicher Sehnsüchte vernebelt allerdings zuweilen das Politische. Man sollte in diesen Roman keine Zeitdiagnostik hineindeuten. Er erzählt von weiblichen Ausbruchsphantasien. Das macht er gut, wenn auch gelegentlich etwas zu geheimnisvoll.
Rezensiert von Meike Feßmann
Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers
Piper Verlag 2009
150 Seiten, 14,95 Euro
"Bevor meine Schwester sich in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf."
Darum wird es auch im Folgenden gehen: um das Bild, das sich eine Frau von einer anderen macht. "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" erzählt von einer Jugend in der DDR, vom Wunsch nach Freiheit, von den Zeiten des Übergangs und der Enttäuschung.
Und all dies ist zugleich Kulisse für ein Theaterstück ganz anderer Art: Julia Schoch inszeniert noch einmal das große Schauspiel vom weiblichen Begehren. Bis hinein in den Ton und die Syntax ähnelt dieser Roman dem "Liebhaber" von Marguerite Duras. Der Mann, der den Ruf des Begehrens verkörpert, ist hier kein reicher Chinese, sondern ein Soldat der Nationalen Volksarmee. Die Schwestern nennen ihn auch dann noch "Soldat", als er längst keiner mehr ist.
Die Erzählerin war gerade im Begriff, für eine Asien-Reise zu packen, als sie der Anruf der Schwester erreichte, bei dem sie ihr mitteilte, sie habe die Beziehung zum "Soldaten" beendet. Als sie nach vier Wochen zurückkehrt, findet sie die Nachricht vom Tod der Schwester vor und eine letzte Postkarte, darauf eine Madonna mit Kind und ein paar nicht besonders begeistert wirkende Sätze. Also beginnt sie mit der Rekonstruktion dessen, was sie für die Lebensgeschichte ihrer Schwester hält. Die Erzählungen vom Soldaten stecken darin wie ein "Markierungspfeil".
Die beiden Schwestern wuchsen in einer kleinen Garnisonsstadt auf, einem Militärstützpunkt, nur wenige Kilometer von Stettin entfernt. Als die Schwester den Soldaten kennenlernte, war sie noch jung. Eine Szene, von der die Erzählerin weiß, dass sie nach einem Klischee klingt, tausendmal abgenudelt in Büchern und Filmen, brachte das Paar zusammen. Der Soldat wurde verprügelt, dabei fiel ihm ein Buch aus der Tasche, das die Schwester ihm stumm zurückreichte. Es war von Hemingway, wie wir später erfahren. Anspielungen auf den amerikanischen Autor James Salter komplettieren das Bild.
Die 1974 in Bad Saarow geborene Autorin ist in der westlichen Literatur mindestens so sehr beheimatet wie in der Literatur der DDR. Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T." ist zwar als Echo in diesem Roman vorhanden, aber es klingt wie aus weiter Ferne.
Dem Soldaten hat sofort die "Wildheit" gefallen, mit der sich die Schwester ihm auf einem Getreidefeld hingab. Damals war sie seine Rettung, eine Flucht aus dem erstickenden Engegefühl der Kaserne. Sie haben sich ein paar Mal getroffen, irgendwann ist er einfach verschwunden. Es gab andere Männer und im Frühjahr 1989 die erste Schwangerschaft. Kurz vor der Wende dann die erste eigene Wohnung mit dem frisch Angetrauten im selben Ort. Als sich das zweite Kind ankündigt, ist der Umbruch längst geschehen. Die Familie zieht in ein Haus am Waldrand. Es ist dieses Bild, das der Erzählerin im Gedächtnis bleibt: Wie ihre Schwester abends noch Säcke mit Müll vors Haus trägt und verloren einen Blick zum Wald wirft.
Nach vielen Jahren meldet sich der Soldat wieder. Und nun verkehren sich die Rollen. Denn nun sitzt sie in ihrem Leben fest und er ist ihre Rettung – ein Lichtblick, eine Erinnerung an die eigene Wildheit und Jugend, an die Zeit, in der noch alles möglich schien.
"Mit der Geschwindigkeit des Sommers" ist vor allem atmosphärisch stark. Julia Schoch verbindet persönliche und politische Enttäuschungsgeschichte. Das unvermeidliche Pathos bei der Beschwörung weiblicher Sehnsüchte vernebelt allerdings zuweilen das Politische. Man sollte in diesen Roman keine Zeitdiagnostik hineindeuten. Er erzählt von weiblichen Ausbruchsphantasien. Das macht er gut, wenn auch gelegentlich etwas zu geheimnisvoll.
Rezensiert von Meike Feßmann
Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers
Piper Verlag 2009
150 Seiten, 14,95 Euro