Blick in die Zeit Jesu

Von Thomas Becker |
Kaiser Wilhelm II. ließ die Erlöserkirche in Jerusalem auf den Fundamenten einer mittelalterlichen Kreuzfahrerkirche errichten. Darunter finden sich Ruinen, die bis in die Zeit Jesu zurückreichen - ein archäologischer Schatz.
Die Erlöserkirche in Jerusalem. Während hoch oben im Turm die Glocken läuten, betritt der Archäologe und Theologe Dieter Vieweger die Kellergewölbe der Kirche. Es ist eine Welt der Mauern, Steine und archäologischen Funde, die sich hier vor ihm auftut. Unter einer Plane verbergen sich die Reste eines Mosaik-Fußbodens aus dem Mittelalter. Und ein paar Schritte weiter klafft ein Loch metertief in den Boden. Wer hinunterblickt, sieht 2000 Jahre in die Vergangenheit der Stadt.

Dieter Vieweger: "Ich vergleiche das immer mit einem Spaghetti-Eis. Man hat beim Spaghetti-Eis beim Essen ja verschiedene Schichten: unten die Sahneschicht, dann Vanille-Eis, dann die rote Soße und oben drüber die weißen Schokoladenstreusel. Und so ist es eben auch hier, dass verschiedene Zeiten übereinander sind. Und wenn man die von der Seite her sieht, kann man sich den Aufbau durch die Zeiten und die Zeiten überhaupt recht gut vorstellen. Und wenn man sie verschiedenfarbig anstrahlt, kann man das mit den verschiedenfarbigen Rekonstruktionen von Jerusalem ganz schnell und blitzartig wieder zusammenbringen."

Unter der Erlöserkirche liegen Ruinen aus zwei Jahrtausenden aufeinander geschichtet. Je tiefer man hinab sieht, desto weiter blickt man in die Vergangenheit Jerusalems:

"Der Hauptschatz ist, dass wir hier bis in die Zeit Jesu runterblicken können. Und das ist grandios. Man sieht Stadtgeschichte. Da wird soviel geredet. Wo findet man denn noch etwas davon? Und das ist chic zu sehen. Und plötzlich hat man nicht nur alte Texte, sondern auch Steine zum Anfassen."

Doch nicht immer sah man diese Steine so deutlich wie heute, wo eine kleine Brücke über das Grabungsloch führt und die Ruinen beleuchtet sind. Der erste, der sie freilegte, war der Archäologe Conrad Schick, als er im 19. Jahrhundert unter der Erlöserkirche grub. Und was er fand, wurde von Zeitgenossen als eine Sensation gewertet: Es hieß, er habe eine Mauer gefunden, die Jerusalem zur Zeit Jesu umgeben haben soll. Und dieser vermeintliche Fund beendete eine langwierige Debatte zwischen Katholiken und Protestanten.

Dieter Vieweger: "Das war ein ganz, ganz großer Streit. Also, der Streit zwischen evangelischen und katholischen Christen im 19. Jahrhundert gipfelte darin, dass die evangelischen Christen den katholischen die wissenschaftliche Redlichkeit absprachen. Und zwar deshalb, weil sie sagten: 'Ihr sucht in der Grabeskirche das Grab Jesu und vor allen Dingen auch Golgatha. Das kann doch gar nicht sein. Denn diese Kirche war zu aller Zeit immer innerhalb der Stadt Jerusalems. Und innerhalb der Stadt Jerusalems kann Jesus weder gekreuzigt noch begraben worden sein. Das würden jüdische und römische Sitten nicht zulassen. Demzufolge kann der Ort nur falsch sein.' Und die evangelischen Christen suchten dann das Grab Jesu also eindreiviertel Kilometer weiter nördlich, wo heute der arabische Busbahnhof liegt in etwa, das so genannte Gartengrab."

Die Ausgrabung der vermeintlichen Stadtmauer, die man unter der Erlöserkirche glaubte gefunden zu haben, beendete die Debatte. Es hieß: Ja, das Grab Jesu liegt heute innerhalb der Stadtmauer. Damals aber, als Jesus hingerichtet und beerdigt wurde, befand sich dieser Ort außerhalb der Stadt. Demnach hatten beide Recht, Protestanten und Katholiken. Allerdings beruhte die Beilegung des Konflikts auf einer Fehlinterpretation. Denn Conrad Schick hatte sich ganz einfach geirrt. Das fanden Archäologen heraus, als sie 1974 erneut unter der Erlöserkirche gruben.

Dieter Vieweger: "Und dabei stellt sich heraus, dass die Schicksche Mauer einfach gar keine Stadtmauer ist. Die hat nämlich nur ein Gesicht. Das heißt, sie hat nur eine Seite, die wirklich 'ne Sichtmauer ist. Schon die andere Seite ist wie Kreuz und Rüben gebaut. Und das zweite, was gegen eine römische Stadtmauer spricht: Sie ist eben nur drei, vier Lagen tief, und geht gar nicht tief runter bis zu den römischen Schichten, also da, wo sie hätte gegründet sein müssen."

Allerdings fanden Archäologen bei den Grabungen die Reste eines rund 2000 Jahre alten Steinbruchs, der sich unmittelbar außerhalb der Stadtmauer befunden haben musste. Damit war auch die Lage der Grabeskirche jenseits der Stadtmauer zu Lebzeiten Jesu fast vollkommen bestätigt. Dieter Vieweger möchte dennoch gerne die legendäre Mauer suchen, die in der Vergangenheit für so viel Verwirrung gesorgt hat. Irgendwo im nächsten Umfeld der Erlöserkirche muss sie zu finden sein, vermutet der Archäologe:

"Die Mauer nachweisen zu können, das wäre so der letzte ja – sage ich mal – Stein in der Mauer, um das Konstrukt, die Theorie, die wir haben, wasserdicht zu machen. Eigentlich braucht man die nicht mehr, so ganz streng. Weil einfach die Hinweise so stark sind, dass wir davon ausgehen können, wo die Mauer stand und wie sie verlief."

Einfach nachzugraben ist derzeit nicht möglich. Denn Archäologie im heiligen Land ist immer auch ein Politikum:

"Wir haben in Jerusalem eine ganz schwierige Situation. Die Altstadt steht nach UNO-Recht unter Besatzung. Sie ist eigentlich arabische Zone, das heißt, sie gehört zur West Bank. Die UNO stellt sich deshalb auf den Standpunkt – und diesen Standpunkt haben wir zu akzeptieren – dass in diesen Fällen keine wissenschaftlichen Grabungen möglich und nötig sind."

Doch juckt es den Vollblut-Archäologen Dieter Vieweger bereits in den Fingern. Er würde am liebsten sofort den Spaten in die Hand nehmen, unter der Kirche gen Osten graben und die berühmte Mauer freilegen:

"Aber dafür brauchen wir den Frieden. Und ich sage dann immer scherzhaft: 'Am nächsten Montag nach dem Frieden geht’s los. Wir brauchen noch das Wochenende, um uns vorzubereiten, aber dann fangen wir Montags früh an und graben dann hier da weiter, wo es uns interessiert.' Das müssen wir jetzt einfach mal zurückstellen."
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