Blick in die Vergangenheit

Von Gerrit Stratmann · 13.10.2005
Nur wenige Menschen kennen die Zeitung vom Tag ihrer eigenen Geburt. Der ein oder andere würde bestimmt gerne einmal nachlesen, was an diesem Tag los war in der Welt. Diese Möglichkeit bietet seit über zehn Jahren ein Wuppertaler Ehepaar. Aus einem privat aufgebauten Zeitungsarchiv verkauft es alte Original-Zeitungen. Das Archiv ist mittlerweile so mächtig, dass es zu jedem Tag des letzten Jahrhunderts mehrere deutschsprachige Zeitungen vorrätig hält.
Rückemann (am Telefon): "Guten Tag Herr Eberhard. - Ja. - Es gibt verschiedene Zeitungen; wir haben leider in dem Fall jetzt nicht den Wuppertaler Generalanzeiger. - Doch. - Doch, ist er doch da. Hab ich jetzt vor lauter Auswahl hier nicht gefunden. Doch, er ist genau da, genau von dem Tag, ja. "

Wer bei Ilona Rückemann anruft, möchte einen Blick in die Vergangenheit werfen, und die ist im Wuppertaler Zeitungsarchiv Papyrus allgegenwärtig. "Originalzeitung vom Tag der Geburt" lautet die Schlagzeile, mit der das Antiquariat für sich wirbt.

Telefonat: "Mhm. Würde mich sehr freuen, wenn Sie drauf zurückkommen. Gut. Ich danke Ihnen. Wiederhören. "

Das private Zeitungsarchiv, das Ilona Rückemann und ihr Mann in den vergangenen zwölf Jahren aufgebaut haben, zählt zu den größten in Deutschland. In ihrem Bestand lagern weit über eine Million Zeitungen aus über zwei Jahrhunderten.

"Wenn man's von den Zeitungstiteln her nimmt, dann sind es weit über 1000 verschiedene Zeitungstitel, die wir im Lager haben. "

...sagt Reinhard Rückemann, der den Bestand von Flohmärkten, privaten Sammlern und aufgelösten Archiven zusammengetragen hat. Angefangen hat die Sammelleidenschaft, als er selber auf der Suche nach einem Geschenk zum 70. Geburtstag seines Schwiegervaters war. Mittlerweile stapeln sich so viele Exemplare im Archiv, dass er von fast jedem Tag der letzten 100 Jahre über ein Dutzend verschiedener Zeitungen besitzt. Das gilt selbst für Daten, an denen besondere Ereignisse stattfanden wie beispielsweise die Mondlandung 1969.

"Da haben wir also noch 'n großen Bestand an Zeitungen, aber so weiter zurückliegende Ereignisse, wie der Untergang der Titanic zum Beispiel, da wird’s dann schon ein bisschen knapper. Das war so am 15. April 1912 und da gibt es schon sehr wenige Zeitungen und es gibt sehr viele Sammler, die dann zu diesem Thema interessiert sind. "

Von einigen Liebhaberstücken mag sich auch Reinhard Rückemann nicht mehr trennen. Exemplare, die über den Beginn und das Ende der Weltkriege berichten, sind rar und begehrt. Auch die Wiedervereinigung und die letzte Papstwahl hat er vorsorglich archiviert. Im Normalfall sind seine Kunden aber keine Sammler, sondern einfach auf der Suche nach einem außergewöhnlichen Geschenk für den runden Geburtstag ab 40.

"Im Bereich von hundert Jahren nimmt die Nachfrage dann ab, aber wir haben natürlich auch viel ältere Zeitungen. Es gab im 19. Jahrhundert zum Beispiel "Die Allgemeine Zeitung", die in Augsburg gedruckt wurde, die haben wir in unserm Archiv ab 1817 zum Beispiel. "

In den zu dicken Bänden zusammengebundenen Ausgaben der "Allgemeinen Zeitung" kann man unter anderem "Die Katastrophe von Schloss Berg" aus dem Jahr 1886 nachlesen: Der Bayernkönig Ludwig II. findet im Starnberger See den Tod. Mehrere Tage lang erscheint die Ausgabe mit einem schwarz gedruckten Trauerrand.

"Was hier interessant ist, dass so zeitnah, aktuell darüber berichtet wird, wie es aus damaliger Sicht halt war und wie sich die Erkenntnisse von Tag zu Tag verändert haben. "

Aufbewahrt werden diese Schätze in einem Lager, zwei Kilometer vom Büro entfernt:

"Das ist mein Mitarbeiter, der Herr Hieby, unser Lagermeister.
Sie sind hier der Dauerbewohner des Archivs?
Ja, der bin ich.
Vermissen sie manchmal das Sonnenlicht hier?
Ja, viel. Aber ich hab ja ein paar Fenster.
Rauchen tun Sie auch hier?
Im Büro. Bis hierhin, bis genau hierhin.
Sie sind gut versichert, ne?
Ja, gegen Feuer auf jeden Fall. Wobei das Feuer gar nicht unbedingt das Problem ist. So vor einem Jahr hatten wir einen Wasserschaden hier, das war dann noch viel schlimmer. Also nicht viel schlimmer als Feuer, aber das war auch schlimm. "

In drei großen Räumen reihen sich auf 900 qm voll gepackte Regale aneinander. Außer der Musik vom Eingang her ist es still. Die nackten Backsteinwände und die Neonröhren unter der Decke vermitteln eine kühle Atmosphäre. Die Lagerbedingungen sind eigens auf das empfindliche Papier abgestimmt.

"Ja, die Kriterien sind kühl, dunkel und trocken. Und das haben wir in den Räumen optimal erfüllt. Es sind Kellerräume und je wärmer es ist, umso schneller zersetzt sich das Papier, deswegen brauchen wir halt die kühlen Temperatur, und Trockenheit, damit 's nich' anfängt zu schimmeln, und Dunkelheit, weil das Papier eben unter Lichteinfluss dann vergilbt. "

Weil der Fundus lückenlos die Berichterstattung der letzten 100 Jahre abdeckt, erhält Reinhard Rückemann auch Anfragen von Museen oder Fernsehsendern, die auf der Suche nach authentischem Material für Ausstellungen und Filme sind. Und auch Wissenschaftler haben Interesse an dem historischen Archiv.

"Gelegentlich haben wir solche Anfragen schon, wenn jemand zu 'nem bestimmten Thema was sucht, dann laden wir ihn auch ein, dann kann er das Archiv benutzen, wenn er's möchte. Mache ich sogar sehr gerne. "

Zweimal musste das Archiv wegen Platzmangel schon umziehen. Noch ist in den Räumen Luft für Erweiterungen. Zum Glück für Reinhard Rückemann, der – wie die meisten Sammler – einfach nichts wegschmeißen kann.

"Eigentlich hänge ich doch an allem, was da ist, weil ich denke, irgendwann gibt es noch mal 'ne Verwendung. "