Blick in die Hinterhöfe der Moderne

04.06.2012
Tagträumen, Warten, Schlangestehen im Supermarkt: Wenn nichts geschieht, ist im Kopf des Menschen eine Menge los, meinen die schwedischen Ethnologen Billy Ehn und Orvar Löfgren. Eine unakademisch leichtfüßige Erzählung über die Kreativität beim Nichtstun.
Für Antworten auf die ewige Frage, wie homo sapiens so tickt und was daraus für seine Sozialfähigkeit folgt, schätzen klügere Köpfe seit langem das normal-banale Alltagsleben als fruchtbares Erkundungsgebiet. Denn so wie sich das Rechtsbewusstsein einer Gesellschaft nicht an verbrecherischen causes célèbres zeigt, sondern an ihrer Alltagskriminalität und dem Umgang damit, so erzählt das "Drama des Alltäglichen" mehr über ihren inneren Zustand als spektakuläre Ereignisse.

Die Forschung über scheinbar Unscheinbares hat spätestens seit Georg Simmel und Walter Benjamin vieles davon ans Licht gebracht. Inzwischen weiß man unter anderem, dass die Muße einer Siesta keineswegs der unproduktive Gegensatz zur Arbeit ist. Aber was ist mit anderen vermeintlich ereignislosen Nicht-Tätigkeiten? Auf diese Frage stießen die schwedischen Ethnologen Billy Ehn und Orvar Löfgren während einer Untersuchung über Wartende. Jemand steht still vor der Supermarktkasse, aber in seinem Kopf tobt ein hektischer Wettkampf: Hab ich die schnellere Schlange gewählt? Bin ich effizienter, also Sieger? Anonyme Befragungen ihrer Studenten ergaben, dass fast jeder aus solchen angeblich "leeren", "toten", "zähflüssigen" Zeiten wahre Abenteuer inszeniert.

Ihr Staunen über "Wenn nichts zu geschehen scheint, ist eine Menge los - aber was?" wird Ausgangspunkt einer großen Studie über das Nichtstun. Herausgekommen ist eine ganz unakademisch leichtfüßige Erzählung auch über ein Forschungsabenteuer, denn eine kulturhistorische und -ethnologische Analyse von weitgehend Unsichtbarem, Unfassbaren erfordert zuerst eine unkonventionelle bis wilde, ständig neu justierte Methodologie. Drei Kapitel sind drei typischen Nicht-Ereignissen gewidmet: dem Warten, den Routinen und dem Tagträumen. In allen geht es um die Einbettung individueller Mikrovorgänge in Makrobedingungen - und umgekehrt. Zum Beispiel: Menschen stehen ethnokulturell gesehen verschieden Schlange; wer warten kann, hat sozialpsychologisch wertvollen Triebaufschub gelernt; Routinen schaffen auch existenzielle Sicherheit und Zeit zum Nachdenken über alles mögliche; Tagträume sind auch ein Ort für die Kristallisation utopischer, gar revolutionärer Ideen und eine Spielart der Meditation.

Im vierten Kapitel belegen Ehn und Löfgren, wie unausgewogen unser Verständnis modernen Lebens ist, wenn es sich "auf nur wenige Schauplätze und Prozesse" fixiert, "die sich durch Dramatik, Ereignisreichtum und eine hohe Sichtbarkeit auszeichnen". Sie setzen den Blick in die "Hinterhöfe der Moderne" dagegen. Und fahren wie in den vorangehenden Kapiteln jede Menge "Augenzeugen" auf - anonyme aus fast aller Welt ebenso wie namhafte, in verschiedenen Bereichen forschende und Dichter und Denker, Maler und Musiker. All die scheinbar disparaten Splitter amalgamierend, gewinnen sie - und wir mit ihnen - die Erkenntnis: In dem, was unsere event-fixierte "time-is-money"-Kultur verachtet, steckt in Wahrheit aufregend viel soziale und kulturelle Kompetenz.

Besprochen von Pieke Biermann

Billy Ehn/ Orvar Löfgren: Nichtstun
Eine Kulturanalyse des Ereignislosen und Flüchtigen
Hamburger Edition, Hamburg 2012
303 Seiten, 24 Euro