Blick in die Feuilletons

Ein politischer Präsident

Bundespräsident Joachim Gauck bei der Gedenkfeier in Danzig zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges.
Bundespräsident Joachim Gauck bei der Gedenkfeier in Danzig zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges. © picture alliance / dpa / epa/ PIOTR PEDZISZEWSKI
Von Klaus Pokatzky · 10.09.2014
Wozu ist Geschichte gut? Um die Gegenwart besser zu verstehen. Dass das nicht so einfach ist, zeigt die Historikerdebatte, die als Reaktion auf die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck entfacht ist: Gibt es Parallelen zwischen Hitler und Putin?
"Historia magistra vitae est" - das verstehen nur Lateiner. Ute Frevert, für die Putin selbstverständlich nicht Hitler ist, übersetzt den Satz nicht. Wir holen es gerne nach: "Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens." Hinter Gaucks Aussagen verbergen sich genuin politische Botschaften, kritisiert Ute Frevert noch – und für Jochen Hellbeck gießt er weiteres Öl ins Feuer.
Die Stärke des Westens zu demonstrieren, ist für Norbert Frei Aufgabe der EU und der NATO, nicht des deutschen Bundespräsidenten. Das wäre einen Streit unter Historikern wert: wie deutlich ein Staatsoberhaupt sprechen darf.
Hätte Theodor Heuss den Adenauer-Politikern die patriotische Ehrenrettung der Widerstandskämpfer überlassen sollen? Hätte Richard von Weizsäcker verhaltener zum 8. Mai als Tag der Befreiung reden sollen?
Es ist beruhigend zu wissen, dass es an der Spitze unseres Gemeinwesens einen Präsidenten gibt, der nicht nur den Toten und den Opfern seine Ehre erweist, sondern auch von dem spricht, was heute der Fall ist, findet Karl Schlögel.
Wenn man, assistiert Herfried Münkler, nicht sagen darf, was man gelernt hat, oder das Gelernte nur für die Deutschen, sonst aber für niemanden gilt, dann hat man tatsächlich nichts gelernt.
Ähnlichkeiten zwischen Hitler und Putin
Für Andreas Wirsching gibt es "natürlich" Ähnlichkeiten zwischen Hitler und Putin: und zwar in einem selbst gesponnenen Netz, an dem zunehmend unkontrollierbare Kräfte ziehen. Es besteht aus Verletztheit und nationalistischer Rhetorik, Halbwahrheiten und glatter Lüge.
Also doch Hitlers "Mein Kampf" lesen, um Putin zu verstehen? Nein; es gibt weitaus besser geschriebene Lektüre: George Orwells Klassiker "1984" anschauen, rät Timothy Snyder – und erinnert an das Orwellsche "Doppeldenk": gleichzeitig zwei Meinungen vertreten, die sich widersprechen, und trotzdem an beide glauben.
Einerseits führt Russland Krieg, um die Welt vom Faschismus zu retten, schreibt Timothy Snyder – doch, Doppeldenk: Politische Verbündete Russlands sind Europas rechtsextreme Parteien, einschließlich der Faschisten und Neonazis.
Auch ein Moskauer Historiker hat sich geäußert und ist nur in einem Punkt nicht mit unserem Bundespräsidenten einverstanden: Zur wirklichen und nicht nur oberflächlichen Integration Russlands ist es bis jetzt gar nicht gekommen, befindet Michail Bojcov: Der Westen hat die große Chance dafür Anfang der 90er-Jahre leider versäumt. In der Ukraine spiele sich der letzte Akt des Zerfalls des letzten alten Kolonialreichs namens Russland ab und seinen Fehler dürfe der Westen bei der nächsten Gelegenheit nicht wiederholen. Denn diese Gelegenheit wird sich früher oder später bieten, wenn Russland von seinen akuten postkolonialen Konvulsionen allmählich genesen wird.
Und: Wir alle müssen Geduld haben. Oder: Tandem patientia victrix. "Endlich ist die Geduld Siegerin." Das war ein Spruch aus dem Dreißigjährigen Krieg.
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