Blick in die Abgründe der Seele

François Lelord hat neun Geschichten über psychische Störungen wie Depressionen, Manien und Zwangshandlungen zusammengestellt. Amüsant und einfühlsam erzählt er die Geschichten seiner Patienten und bietet damit einen tiefen Einblick in den Praxisalltag eines Psychiaters.
Da ist die junge Cellistin, Marie-Hélène, die sich seit Monaten nicht mehr aus dem Haus traut. Der Leidensdruck ist enorm. Agoraphobie lautete die Diagnose, Angst vor Menschenansammlungen. Nach einer verhaltenstherapeutischen Behandlung, Gesprächssitzungen und Entspannungsübungen, erlebt die Cellistin Menschengruppen in geschlossenen Räumen wieder ohne Angst. Die Panik ist vorbei.

Ebenso schafft es der erfolgreiche Geschäftsmann, Monsieur B., der auf Drängen seiner Ehefrau in die Praxis kommt, seine schwere Depression zu besiegen. Nach einem Krankenhausaufenthalt, der Einstellung auf ein für ihn richtiges Antidepressivum und einer zusätzlichen Verhaltenstherapie, kann er zurück zu seiner Familie und in seinen Beruf.

Schritt für Schritt beschreibt der Psychiater, wie seine Patienten Hilfe erfahren, und erläutert detailliert, wie eine Diagnose gestellt wird, warum eine bestimmte Therapie folgt, wie die Patienten darauf vorbereitet werden und anschließend genesen.

Neben den anschaulichen klinischen Berichten stehen gleichzeitig die persönlichen Beobachtungen des Psychiaters. Das ist ein großes Plus dieses Buches. Lelord erzeugt eine fast schon unglaubliche Intimität zu seinen Patienten - sie sind mehr als Fallbeispiele für eine geglückte Therapie. Er versteht es, die kleinen, aber wichtigen Details herauszuarbeiten. Etwa das hilflose Zittern der Cellistin, das sie zu verbergen sucht, indem sie ihre Hände seitlich unter die Oberschenkel schiebt. Ihre schnelle Atmung, die Ausdruck des inneren Kampfes ist. François Lelord entgeht das alles nicht. Hier zeigen sich die schriftstellerischen Qualitäten, des durch die "Hector"-Romane berühmt gewordenen Franzosen: er kann begeistern, ohne reißerisch zu sein.

Dabei ist "Das Geheimnis der Cellistin" sein erstes Buch. Er hat es vor 20 Jahren geschrieben, jetzt neu überarbeitet und aktualisiert. Wie nebenbei erhält man so einen Überblick über die Entwicklungen in der Psychiatrie in den letzten 20 Jahren, über neue Untersuchungsmethoden und Medikamente - und über Vorurteile, die damals wie heute noch gelten: etwa die Couch im Zimmer eines jeden Psychiaters.

Eins von zahlreichen Vorurteilen, die Lelord spielend ausräumt. Doch das Beste an seinem Buch ist der offene und unverstellte Blick auf die menschliche Psyche und deren Abgründe.

Besprochen von Susanne Nessler

François Lelord: Das Geheimnis der Cellistin - Beinahe normale Fälle eines ungewöhnlichen Psychiaters
Piper Verlag, München 2011
380 Seiten, 19, 95 Euro
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