Blaue Eimer für die Polizei
Verkehrspolizisten gehören zu den wohl meistgehassten Menschen in Russland. Sobald einer von ihnen ein zahlungskräftiges Opfer wittert, schnellt die Kelle in die Höhe und Geld wechselt den Besitzer - sofort und bar. Russische Autofahrer haben nun ihre eigene Form des Protests entwickelt.
Ich bin ein Wesen höherer Ordnung, ich kenne keine Probleme, die man nicht durch Bestechung lösen kann.
Mercedes S666, aus dem Weg, Plebejer, komm mir nicht unters Rad!
Und steckt euch die Meinung des Volkes doch sonst wohin.
Wie viele Autos mit Blaulicht durch Moskau fahren, hat Regierungschef Wladimir Putin in diesem Jahr zum Dienstgeheimnis erklärt. Bis dahin waren es offiziell 980, Fahr-zeuge der Polizei oder Krankenwagen nicht mitgerechnet. Moskauer Stadtplaner schätzten die Dunkelziffer auf 6000 – es seien mehr als Busse. Mitglieder des Auto-fahrerverbandes haben eine Fernseh-Diva im Auto mit Blaulicht gefilmt und den Film-regisseur Nikita Michalkow. Michalkow, der mit Wladimir Putin befreundet ist, wurde in einem Fernsehinterview befragt, warum er mit Blaulichteinsatz durch die Stadt fährt.
"Ich fahre mit Blaulicht. So war es schon immer und so wird es auch bleiben."
Der Kutuzow-Prospekt in Moskau. An Wochentagen rasen hier hunderte von Limousi-nen mit Blaulicht am ewigen Stau vorbei: Staatsbeamte und kremlnahe Spitzen-manager wie der LUKOIL-Vize Anatolij Barkow und Spitzenmanager von Konzernen wie GASPROM.
Aber heute ist Samstag und die Autos am Straßenrand haben auf ihren Dächern keine Blaulichtanlagen, sondern blaue Sandkasteneimer oder riesige blaue Putzkübel. Ein Motorradfahrer trägt einen Eimer auf seinem Helm. Die "Bewegung der blauen Eimer" feiert hier ihr halbjähriges Bestehen. Sie kämpft gegen Willkür und Korruption der Po-lizei und gegen das Privileg der Einflussreichen, sich mit Blaulicht Vorfahrt im dichten Moskauer Verkehr zu verschaffen. Heute bereiten sich ihre Mitglieder auf eine ge-meinsame Autofahrt durch Moskau vor.
Zehn Polizeiautos bewachen die Aktion. Die russische Straßenverkehrsordnung gibt ihnen jedoch keine Möglichkeit, die blauen Eimer auf ihrem Dach zu verbieten, erklärt Demonstrant Pjotr Schkumatow:
"Von Anfang an haben uns einfache Polizisten sogar unterstützt. Aber es gibt auch viele, die keinen Humor haben und "Weg mit dem Eimer!" brüllen. Wir antworten dann: "Das ist mein Privatgepäck, und der Eimer bleibt drauf. Wenn man sich nicht einschüchtern lässt, sagen sie dann zu einem: "Ach so. Na dann, fahr weiter."
Die "Blauen Eimer" haben keinen Vorstand und keine Büros. Eineinhalbtausend Mit-streiter organisieren sich über einen Blog im Internet. Sie bieten jedem, der mit-machen möchte, kostenlos blaue Plastikeimer in der Größe von echten Blaulicht-anlagen an. Der Computerjournalist Dmitrij verteilt bis zu 300 Eimer pro Woche.
"Wir gehen davon aus, dass ca. 1000 Autos mit Eimern in Moskau täglich unter-wegs sind. Gestern ist ein Krankenwagen gekommen. Nein, der hatte natürlich eine eigene Anlage, aber die Sanitäter haben fünf Eimer für ihre Privatautos geholt. Als ich zum ersten Mal mit den Eimer auf dem Dach gefahren bin, war das ein geiles Gefühl. Wenn man morgens aufsteht und zur Arbeit fährt, ist man meistens schlecht drauf, will schlafen, und plötzlich sieht man, dass ein Fahrer seinen Daumen aus dem Fenster steckt. Und ein anderer hupt. Das ist wie Musik für mich, ich fahre weiter, trommele mit den Fingern aufs Lenkrad. Mein Tag ist gerettet.
Ich rechne natürlich nicht damit, dass die Blaulichtanlagen der Obrigkeit sofort von der Straße verschwinden. Aber ich hoffe, dass die steigende Anzahl von engagierten Menschen den Regierenden klar macht: So unverschämt wie jetzt können sie sich nicht weiter verhalten."
Die Regierungspartei Wladimir Putins hat der Duma, der Volkskammer im russischen Parlament, eine Gesetzesänderung vorgelegt, die alle Proteste mit Privatfahrzeugen unter Strafe stellen will. Die Reaktion der Demonstranten: "Diener des Volkes, weg mit dem Blaulicht!", zu lesen auf einem Aufkleber, der oft zu sehen ist. Auf anderen steht: "Blaulicht ist die Schande Russlands" oder "LUKOIL – jetzt mit der Lizenz zum Tö-ten".
Auf dem Leninprospekt in Moskau sind alle fünf Fahrstreifen Richtung Zentrum dicht, die Fahrer auf der Gegenfahrbahn sehen sich an einer unendlichen Blechlawine vor-beiziehen. Plötzlich fährt ein schwarzer Mercedes raus auf den Mittelstreifen, be-schleunigt und kommt auf die Gegenspur. Die ersten Autos können dem Falschfahrer gerade noch ausweichen. Ohnehin haben die Moskauer eine fast übermenschliche Reaktionsgeschwindigkeit entwickelt, um sich vor großen schwarzen Autos mit ein-gebauter Vorfahrt in Sicherheit zu bringen. Die Fahrerin eines kleinen Citroens schafft das dieses Mal nicht. Beim Frontalaufprall ist sie sofort tot, ihre Beifahrerin stirbt weni-ge Stunden später auf der Intensivstation.
Die Insassen des drei Tonnen schweren gepanzerten Mercedes kommen mit Prellun-gen davon. Kaum ist ein Verkehrspolizist da, stellt er auch schon den Schuldigen fest. Die Frau am Steuer des Citroens, eine 37-jährige Frauenärztin, Mutter einer einein-halbjährigen Tochter. Im Mercedes saß Anatolij Barkow, Vize-Chef und Leiter des Sicherheitsdienstes von LUKOIL, des größten Ölkonzerns Russlands mit besten Be-ziehungen zum Kreml.
Zu dem Unfall kam es Anfang des Jahres. Genaue Details weiß man bis heute nicht. Die Videokameras, die bis dahin diesen Straßenabschnitt überwacht hatte, sind wie durch Zauber verschwunden. Bis auf eine, deren Sicht auf die Unfallstelle allerdings durch ein Reklameschild verdeckt war. Nach monatelanger Auswertung genau dieses Videos, nach Befragung von Zeugen und Analyse der Satellitenbilder, kam ein Er-mittlungsteam der Verkehrspolizei zu dem Schluss: Die alleinige Schuld an dem Unfall trägt Olga Alexandrina, die getötete Frauenärztin und Fahrerin des Citroen. Ermittlung eingestellt.
Ihre Schwester, Nastja Alexandrina, ist heute zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren gegangen. Die angehende Popsängerin steht am Rande einer kleinen Kundgebung, die im Schatten des LUKOIL-Hochhauses stattfindet.
"Mein Vater hat mich gleich nach dem Unfall angerufen. Zuerst war es nur ein Schock für mich. Ich bin dann sofort ins Internet gegangen und habe erfahren, dass meine Schwester bereits beschuldigt wurde. Ich musste etwas tun, irgendwas. Sie töten uns, weil wir für sie nur Fußvolk sind. Und wer, wenn nicht wir, soll etwas da-gegen tun? Wir sind ein kleiner Kreis, aber wir werden immer mehr. Heute sind viele Leute hierher gekommen. Gut, dass auch viele junge Leute da sind. Ich glaube, jetzt werde ich auch auf andere Demos gehen. Wie wichtig das ist, versteht man oft erst, wenn man selbst betroffen ist. Sie haben Geld und Macht, wir aber haben das Volk und das Wort."
Nicht mehr als 100 Leute sind zur Protestaktion gekommen. Viele von ihnen gehören zum Verband russischer Autofahrer, ein Verein, der sich gegen die Willkür der Obrig-keit auflehnt. Zwei junge Männer halten ein Transparent hoch. Auch darauf steht: "LUKOIL. Jetzt mit der Lizenz zum töten".
Aus der Ferne beobachten fünf Polizisten die Demonstration. Ein Bus mit vergitterten Fenstern parkt in der Seitenstraße. Die Mahnwache der Autofahrer wurde ordnungs-gemäß angemeldet, sollte es aber trotzdem einen Befehl zum Auseinandertreiben ge-ben, ist die Polizei hilflos. Zwischen dem Gefangenenbus und der Aktion entstand aus dem Nichts einer der endlosen Moskauer Staus. Genervte Autofahrer fangen an zu hupen, ein schwarzer Geländewagen versucht sich vorzudrängeln. Statt eines Martinshorns benutzt die russische Prominenz oft ein kurzes, bellendes Hornsignal. Ein Geräusch wie ein Fluch: Verzieht euch!
Während Nastjas Vater aufgebracht vom Unrecht erzählt, das seiner Familie wider-fahren ist, steht Nastja abseits von der Demo, das Gesicht hinter einer dunklen Desig-nerbrille versteckt. Traut sie sich nach dem Tod ihrer Schwester überhaupt noch Auto zu fahren?
"Wenn es irgendwie geht, fahre ich nicht auf der linken Spur. Wenn in Gegen-richtung ein Stau ist, rechne ich immer damit, dass da ein Wagen in meine Spur fährt und dann bin ich dran, genau wie meine Schwester. Aber was kann ich tun? Soll ich etwa mit der U-Bahn fahren? Dort gibt es immer wieder Bombenanschläge. Zu Hause bleiben? Das Haus können sie in die Luft jagen, das ist ja schon mal passiert.
Wenn man Angst hat, kann man sich gleich umbringen. Wir sind einfache Menschen, und wir können uns nicht so verhalten wie die Leute von Rang. Das heißt aber nicht, dass ich vor ihnen Angst habe. Darüber hat mein Kollege Noize MC einen Song ge-schrieben. Ich habe ihn allen Fernsehkanälen und Radiosendern angeboten, und die-sem Song ist es zu danken, dass unser Fall nicht in Vergessenheit geraten ist."
Die offiziellen Medien haben den Song jedoch nicht gesendet. Der Rapper Noize MC stellte sein Musikvideo dann schlicht auf Youtube. Der Clip stellt den LUKOIL-Vize Barkow als dämonische Comic-Figur dar. Barkow rappt:
"Mercedes S666, aus dem Weg, Plebejer, komm mir nicht unters Rad! Zittern sollt ihr, ihr armselige Proleten, die Straße gehört Patriziern. Freie Fahrt unserer Kampf-kutsche, wir sind schon im Verzug auf dem Weg in die Hölle. Und steckt euch die Meinung des Volkes doch sonst wohin. Das Gesindel braust leicht auf, gibt aber gleich wieder Ruhe."
Inzwischen haben fast 800.000 Menschen dieses Musikvideo angeklickt. Erst darauf-hin berichtete das staatliche Fernsehen über den Unfall: Die getötete Ärztin hätte da-vor zwei Unfälle mit Blechschaden gehabt. Also wäre sie am tödlichen Unfall schuld.
Der Verband der Autofahrer Russlands organisiert den zivilen Widerstand gegen die korrumpierte Verkehrspolizei und die feudal anmutenden Privilegien der wirtschaft-lichen und politischen Elite. Er entstand 2005, als der damalige Präsident Putin ein Verbot aller Fahrzeuge vorbereitete, deren Steuer auf der rechten Seite war. Im Osten des Landes hätten mit diesem Verbot 93 Prozent aller Privatwagen nicht fahren dürfen – dagegen gingen die Autobesitzer auf die Straße.
Der Kreml ließ den Widerstand durch den OMON, eine berüchtigte Sondereinsatz-truppe, niederknüppeln, doch die Unzufriedenheit weitete sich aus. Zuerst in Sibirien, dann im Ural und schließlich in Moskau entstanden Vereine der Autobesitzer, die sich bald zu einem Bund vereinigten. Die Regierung Putin legte ihre Verbotspläne auf Eis. Seitdem protestierten die Auto-Aktivisten auch gegen galoppierende Benzinpreise und Versicherungstarife. Der Vorsitzende Sergej Kanajew kam nach Moskau aus dem sibi-rischen Nowokusnezk. Dort arbeitete er als Finanzmanager in einem Schlachthof. Bis ihn ein Erlebnis dazu brachte, in den zivilen Widerstand zu gehen.
"Einmal bin ich mit einem guten Freund durch Nowokusnezk gefahren. Er fuhr mit seiner achtjährigen Tochter vor, ich folgte ihm mit einem anderen Wagen. Plötzlich, als wir gerade an einer Kreuzung ankamen, sah ich, wie ein Polizeiauto über die rote Ampel raste. Es rammte den Wagen, in dem mein Freund und seine Tochter saßen. Beide starben.
Mein erster Wunsch war, den Polizisten zu erschießen. Er war auch noch besoffen. Seine Kollegen versuchten, den Fall zu verschleppen. Wir brachten ihn aber vor Ge-richt. Das Urteil lautete: Bewährungsstrafe. Wir ließen nicht nach und haben es ge-schafft, den Mörder hinter Gitter zu bringen. Bald wurde er aber entlassen, wegen guter Führung. Damals ist mir klar geworden, dass mein Leben sich kardinal verändert hat. Dass meine Arbeit in der Wirtschaft nichts wert ist, wenn ich hilflos zusehen muss, wie mein Kindheitsfreund stirbt und ich keine Gerechtigkeit erreichen kann."
Allein in Moskau, allein in seinem Erdgeschoss-Büro, wo er in einem Hinterzimmer sein Bett aufgeschlagen hat, arbeitet Sergej oft bis tief in die Nacht.
"Wir wollen das korrupte System zurechtrücken. Es kann doch nicht angehen, dass 70 Prozent aller Bußgelder schwarz auf die Hand bezahlt werden und der Staatsetat bekommt nur 30 Prozent. Wie kann man unter diesen Umständen von Sicherheit im Verkehr sprechen? Wer weiß, dass man die Polizei immer bestechen kann, muss nicht auf Verkehrsregeln achten. So wird jeder zur Gefahr für andere Autofahrer, und sie wiederum für einen selbst. Die Korruption ist wie ein Geschwür. Besonders spür-bar ist sie auf der Straße."
Im Bestechungsindex von Transparency International ist Russland um acht Stellen auf Platz 154 abgerutscht, wo es neben Papua-Neuguinea, Kenia und Laos rangiert. Die Internetbibliothek public.ru veröffentlicht bereits zum dritten Mal ein "Handbuch des korrupten Beamten" mit aktualisierten Preisen für bestimmte "Dienstleistungen": Der Abgeordnetensitz in der Staatsduma kostet fünf Millionen Euro. Ein Studienplatz an der Lomonossow-Universität ist ab 40.000 Euro zu haben. Für nur 2500 Euro gibt es den entzogenen Führerschein zurück.
Trotz des ironischen Titels basieren alle Daten auf aufgedeckten, oft skurrilen Korruptionsfällen, über die in der Presse berichtet wurde. Zum Beispiel über einen Verkehrspolizisten, der mit 2000 erpressten Rubeln erwischt wurde. Er sperrte sich in seinen Dienstwagen ein und aß die Geldscheine auf. Die Verkehrspolizisten in Russ-land betreiben nicht nur einen Ablasshandel wie im Mittelalter. Oft verleiten sie sogar die Verkehrsünder zu ihren Vergehen. Es gibt Straßenabschnitte, wo an einem Tag Dutzende Autofahrer entweder ihre Führerscheine verlieren oder blechen müssen. Solche Stellen spürt der Rechtsanwalt und Bürgerrechtler Jurij Schulipa auf. Er be-arbeitet die Meldungen von Betroffenen oder ist wie heute quer durch Moskau unter-wegs auf der Suche nach so genannten "Fallen" der Verkehrspolizei.
"Die Mehrheit der Autofahrer in Russland ist gesetzestreu, sie würden nie vorsätz-lich einen Rechtsbruch begehen. Aber sehen Sie mal, diese Verkehrszeichen! Sie hängen so, dass die meisten Fahrer sie einfach nicht sehen können. Die Polizei ver-steckt die Straßenzeichen manchmal so geschickt, dass sie von der Straß e aus nicht sichtbar sind. Der Fahrer fährt vorbei und kommt geradewegs in einen Hinterhalt."
Eine der Stellen hat Jurij auf Video dokumentiert und mit seinem Rechtsgutachten an die Medien übergeben. Der Chef der Verkehrspolizei musste schließlich vor der Fern-sehkamera versichern, dass dort keine Autofahrer mehr bestraft werden. Andere Fal-len schnappen immer noch zu. Die Verkehrspolizei sichert sich dadurch ihr Ein-kommen, und nicht nur das.
"Je mehr Verstöße ein Beamter protokolliert, desto schneller steigt er auf. Ein Leutnant wird zum Oberleutnant befördert, dann zum Hauptmann. Auch sein Vor-gesetzter, der derart beeindruckende Leistungen vermelden darf, klettert schneller hoch auf der Karriereleiter. Nach diesem Prinzip arbeitet das gesamte System der Strafverfolgung."
Jurij von der Autofahrerbewegung war früher selbst Teil dieses Systems. Er hat eine Akademie der Staatssicherheit absolviert und arbeitete bis vor fünf Jahren als Ver-kehrssicherheitschef in einem Fuhrpark des Kreml. Der 31-Jährige lernte das System Korruption so aus der Sicht von Gewinnern und Verlierern kennen, lange bevor er die Fronten wechselte.
"Als ich meinen Führerschein hatte, habe ich einen gebrauchten Moskwitsch ge-kauft. Der war drei Jahre älter als ich. Also lass ich den Wagen überholen, bekomme einen TÜV-Schein und fahre los. Ein Polizist hält mich an. Er hat eine Alkoholfahne und er unterstellt mir, einer meiner Reifen entspreche nicht den Sicherheitsvor-schriften. Ich halte ihm den TÜV-Schein hin. Dann will er den Verbandkasten sehen, dann den Feuerlöscher und das Warndreieck. Ich hatte alles da. Dann sagt der Polizist: "Wie kann man nur so geizig sein!" – "Wieso denn geizig?" frage ich. Und er: "Denkst du etwa, ich stehe einfach so hier rum?"
Seitdem habe ich einen richtigen Ekel vor solchen Beamten. Im Regierungsfuhrpark konnten sie uns natürlich keine Probleme machen, aber ankämpfen gegen die zügel-lose Korruption konnte ich dort auch nicht. Zum Beispiel der Wagen dort, der mit der Blaulichtanlage auf dem Dach. Er gehört einem hochgestellten Staatsbeamten. Im Straßenverkehr verhalten sich solche Wagen ausnehmend frech und rücksichtslos. Sie missachten Verkehrsregeln, sie schneiden anderen Autos den Weg ab und ver-ursachen Unfälle. Viele Unfallopfer kommen dann zu uns, aber es ist eine schwierige Aufgabe, ihre Unschuld zu beweisen."
Nach der Demonstration vor dem LUKOIL-Hauptquartier hat der Vorsitzende des Au-tofahrerbundes Sergej Kanajew eine unabhängige Expertise des Unfalls mit dem LUKOIL-Vize durchführen lassen. Neue Beweise und Zeugen waren für die offizielle Ermittlung vernichtend, trotzdem wurde der Fall nicht wieder aufgerollt. Heute nimmt Sergej an der Protestfahrt teil. Die Aktivisten steigen in ihre Autos und auf ihre Fahr-räder. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung und fährt Richtung Kreml.
Am 20. November fand eine weitere russlandweite Protestaktion der Autofahrer statt. Die Untersuchung des Unfalls mit dem LUKOIL-Vize wurde inzwischen wieder auf-gerollt. Das Ergebnis ist noch offen.
Mercedes S666, aus dem Weg, Plebejer, komm mir nicht unters Rad!
Und steckt euch die Meinung des Volkes doch sonst wohin.
Wie viele Autos mit Blaulicht durch Moskau fahren, hat Regierungschef Wladimir Putin in diesem Jahr zum Dienstgeheimnis erklärt. Bis dahin waren es offiziell 980, Fahr-zeuge der Polizei oder Krankenwagen nicht mitgerechnet. Moskauer Stadtplaner schätzten die Dunkelziffer auf 6000 – es seien mehr als Busse. Mitglieder des Auto-fahrerverbandes haben eine Fernseh-Diva im Auto mit Blaulicht gefilmt und den Film-regisseur Nikita Michalkow. Michalkow, der mit Wladimir Putin befreundet ist, wurde in einem Fernsehinterview befragt, warum er mit Blaulichteinsatz durch die Stadt fährt.
"Ich fahre mit Blaulicht. So war es schon immer und so wird es auch bleiben."
Der Kutuzow-Prospekt in Moskau. An Wochentagen rasen hier hunderte von Limousi-nen mit Blaulicht am ewigen Stau vorbei: Staatsbeamte und kremlnahe Spitzen-manager wie der LUKOIL-Vize Anatolij Barkow und Spitzenmanager von Konzernen wie GASPROM.
Aber heute ist Samstag und die Autos am Straßenrand haben auf ihren Dächern keine Blaulichtanlagen, sondern blaue Sandkasteneimer oder riesige blaue Putzkübel. Ein Motorradfahrer trägt einen Eimer auf seinem Helm. Die "Bewegung der blauen Eimer" feiert hier ihr halbjähriges Bestehen. Sie kämpft gegen Willkür und Korruption der Po-lizei und gegen das Privileg der Einflussreichen, sich mit Blaulicht Vorfahrt im dichten Moskauer Verkehr zu verschaffen. Heute bereiten sich ihre Mitglieder auf eine ge-meinsame Autofahrt durch Moskau vor.
Zehn Polizeiautos bewachen die Aktion. Die russische Straßenverkehrsordnung gibt ihnen jedoch keine Möglichkeit, die blauen Eimer auf ihrem Dach zu verbieten, erklärt Demonstrant Pjotr Schkumatow:
"Von Anfang an haben uns einfache Polizisten sogar unterstützt. Aber es gibt auch viele, die keinen Humor haben und "Weg mit dem Eimer!" brüllen. Wir antworten dann: "Das ist mein Privatgepäck, und der Eimer bleibt drauf. Wenn man sich nicht einschüchtern lässt, sagen sie dann zu einem: "Ach so. Na dann, fahr weiter."
Die "Blauen Eimer" haben keinen Vorstand und keine Büros. Eineinhalbtausend Mit-streiter organisieren sich über einen Blog im Internet. Sie bieten jedem, der mit-machen möchte, kostenlos blaue Plastikeimer in der Größe von echten Blaulicht-anlagen an. Der Computerjournalist Dmitrij verteilt bis zu 300 Eimer pro Woche.
"Wir gehen davon aus, dass ca. 1000 Autos mit Eimern in Moskau täglich unter-wegs sind. Gestern ist ein Krankenwagen gekommen. Nein, der hatte natürlich eine eigene Anlage, aber die Sanitäter haben fünf Eimer für ihre Privatautos geholt. Als ich zum ersten Mal mit den Eimer auf dem Dach gefahren bin, war das ein geiles Gefühl. Wenn man morgens aufsteht und zur Arbeit fährt, ist man meistens schlecht drauf, will schlafen, und plötzlich sieht man, dass ein Fahrer seinen Daumen aus dem Fenster steckt. Und ein anderer hupt. Das ist wie Musik für mich, ich fahre weiter, trommele mit den Fingern aufs Lenkrad. Mein Tag ist gerettet.
Ich rechne natürlich nicht damit, dass die Blaulichtanlagen der Obrigkeit sofort von der Straße verschwinden. Aber ich hoffe, dass die steigende Anzahl von engagierten Menschen den Regierenden klar macht: So unverschämt wie jetzt können sie sich nicht weiter verhalten."
Die Regierungspartei Wladimir Putins hat der Duma, der Volkskammer im russischen Parlament, eine Gesetzesänderung vorgelegt, die alle Proteste mit Privatfahrzeugen unter Strafe stellen will. Die Reaktion der Demonstranten: "Diener des Volkes, weg mit dem Blaulicht!", zu lesen auf einem Aufkleber, der oft zu sehen ist. Auf anderen steht: "Blaulicht ist die Schande Russlands" oder "LUKOIL – jetzt mit der Lizenz zum Tö-ten".
Auf dem Leninprospekt in Moskau sind alle fünf Fahrstreifen Richtung Zentrum dicht, die Fahrer auf der Gegenfahrbahn sehen sich an einer unendlichen Blechlawine vor-beiziehen. Plötzlich fährt ein schwarzer Mercedes raus auf den Mittelstreifen, be-schleunigt und kommt auf die Gegenspur. Die ersten Autos können dem Falschfahrer gerade noch ausweichen. Ohnehin haben die Moskauer eine fast übermenschliche Reaktionsgeschwindigkeit entwickelt, um sich vor großen schwarzen Autos mit ein-gebauter Vorfahrt in Sicherheit zu bringen. Die Fahrerin eines kleinen Citroens schafft das dieses Mal nicht. Beim Frontalaufprall ist sie sofort tot, ihre Beifahrerin stirbt weni-ge Stunden später auf der Intensivstation.
Die Insassen des drei Tonnen schweren gepanzerten Mercedes kommen mit Prellun-gen davon. Kaum ist ein Verkehrspolizist da, stellt er auch schon den Schuldigen fest. Die Frau am Steuer des Citroens, eine 37-jährige Frauenärztin, Mutter einer einein-halbjährigen Tochter. Im Mercedes saß Anatolij Barkow, Vize-Chef und Leiter des Sicherheitsdienstes von LUKOIL, des größten Ölkonzerns Russlands mit besten Be-ziehungen zum Kreml.
Zu dem Unfall kam es Anfang des Jahres. Genaue Details weiß man bis heute nicht. Die Videokameras, die bis dahin diesen Straßenabschnitt überwacht hatte, sind wie durch Zauber verschwunden. Bis auf eine, deren Sicht auf die Unfallstelle allerdings durch ein Reklameschild verdeckt war. Nach monatelanger Auswertung genau dieses Videos, nach Befragung von Zeugen und Analyse der Satellitenbilder, kam ein Er-mittlungsteam der Verkehrspolizei zu dem Schluss: Die alleinige Schuld an dem Unfall trägt Olga Alexandrina, die getötete Frauenärztin und Fahrerin des Citroen. Ermittlung eingestellt.
Ihre Schwester, Nastja Alexandrina, ist heute zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren gegangen. Die angehende Popsängerin steht am Rande einer kleinen Kundgebung, die im Schatten des LUKOIL-Hochhauses stattfindet.
"Mein Vater hat mich gleich nach dem Unfall angerufen. Zuerst war es nur ein Schock für mich. Ich bin dann sofort ins Internet gegangen und habe erfahren, dass meine Schwester bereits beschuldigt wurde. Ich musste etwas tun, irgendwas. Sie töten uns, weil wir für sie nur Fußvolk sind. Und wer, wenn nicht wir, soll etwas da-gegen tun? Wir sind ein kleiner Kreis, aber wir werden immer mehr. Heute sind viele Leute hierher gekommen. Gut, dass auch viele junge Leute da sind. Ich glaube, jetzt werde ich auch auf andere Demos gehen. Wie wichtig das ist, versteht man oft erst, wenn man selbst betroffen ist. Sie haben Geld und Macht, wir aber haben das Volk und das Wort."
Nicht mehr als 100 Leute sind zur Protestaktion gekommen. Viele von ihnen gehören zum Verband russischer Autofahrer, ein Verein, der sich gegen die Willkür der Obrig-keit auflehnt. Zwei junge Männer halten ein Transparent hoch. Auch darauf steht: "LUKOIL. Jetzt mit der Lizenz zum töten".
Aus der Ferne beobachten fünf Polizisten die Demonstration. Ein Bus mit vergitterten Fenstern parkt in der Seitenstraße. Die Mahnwache der Autofahrer wurde ordnungs-gemäß angemeldet, sollte es aber trotzdem einen Befehl zum Auseinandertreiben ge-ben, ist die Polizei hilflos. Zwischen dem Gefangenenbus und der Aktion entstand aus dem Nichts einer der endlosen Moskauer Staus. Genervte Autofahrer fangen an zu hupen, ein schwarzer Geländewagen versucht sich vorzudrängeln. Statt eines Martinshorns benutzt die russische Prominenz oft ein kurzes, bellendes Hornsignal. Ein Geräusch wie ein Fluch: Verzieht euch!
Während Nastjas Vater aufgebracht vom Unrecht erzählt, das seiner Familie wider-fahren ist, steht Nastja abseits von der Demo, das Gesicht hinter einer dunklen Desig-nerbrille versteckt. Traut sie sich nach dem Tod ihrer Schwester überhaupt noch Auto zu fahren?
"Wenn es irgendwie geht, fahre ich nicht auf der linken Spur. Wenn in Gegen-richtung ein Stau ist, rechne ich immer damit, dass da ein Wagen in meine Spur fährt und dann bin ich dran, genau wie meine Schwester. Aber was kann ich tun? Soll ich etwa mit der U-Bahn fahren? Dort gibt es immer wieder Bombenanschläge. Zu Hause bleiben? Das Haus können sie in die Luft jagen, das ist ja schon mal passiert.
Wenn man Angst hat, kann man sich gleich umbringen. Wir sind einfache Menschen, und wir können uns nicht so verhalten wie die Leute von Rang. Das heißt aber nicht, dass ich vor ihnen Angst habe. Darüber hat mein Kollege Noize MC einen Song ge-schrieben. Ich habe ihn allen Fernsehkanälen und Radiosendern angeboten, und die-sem Song ist es zu danken, dass unser Fall nicht in Vergessenheit geraten ist."
Die offiziellen Medien haben den Song jedoch nicht gesendet. Der Rapper Noize MC stellte sein Musikvideo dann schlicht auf Youtube. Der Clip stellt den LUKOIL-Vize Barkow als dämonische Comic-Figur dar. Barkow rappt:
"Mercedes S666, aus dem Weg, Plebejer, komm mir nicht unters Rad! Zittern sollt ihr, ihr armselige Proleten, die Straße gehört Patriziern. Freie Fahrt unserer Kampf-kutsche, wir sind schon im Verzug auf dem Weg in die Hölle. Und steckt euch die Meinung des Volkes doch sonst wohin. Das Gesindel braust leicht auf, gibt aber gleich wieder Ruhe."
Inzwischen haben fast 800.000 Menschen dieses Musikvideo angeklickt. Erst darauf-hin berichtete das staatliche Fernsehen über den Unfall: Die getötete Ärztin hätte da-vor zwei Unfälle mit Blechschaden gehabt. Also wäre sie am tödlichen Unfall schuld.
Der Verband der Autofahrer Russlands organisiert den zivilen Widerstand gegen die korrumpierte Verkehrspolizei und die feudal anmutenden Privilegien der wirtschaft-lichen und politischen Elite. Er entstand 2005, als der damalige Präsident Putin ein Verbot aller Fahrzeuge vorbereitete, deren Steuer auf der rechten Seite war. Im Osten des Landes hätten mit diesem Verbot 93 Prozent aller Privatwagen nicht fahren dürfen – dagegen gingen die Autobesitzer auf die Straße.
Der Kreml ließ den Widerstand durch den OMON, eine berüchtigte Sondereinsatz-truppe, niederknüppeln, doch die Unzufriedenheit weitete sich aus. Zuerst in Sibirien, dann im Ural und schließlich in Moskau entstanden Vereine der Autobesitzer, die sich bald zu einem Bund vereinigten. Die Regierung Putin legte ihre Verbotspläne auf Eis. Seitdem protestierten die Auto-Aktivisten auch gegen galoppierende Benzinpreise und Versicherungstarife. Der Vorsitzende Sergej Kanajew kam nach Moskau aus dem sibi-rischen Nowokusnezk. Dort arbeitete er als Finanzmanager in einem Schlachthof. Bis ihn ein Erlebnis dazu brachte, in den zivilen Widerstand zu gehen.
"Einmal bin ich mit einem guten Freund durch Nowokusnezk gefahren. Er fuhr mit seiner achtjährigen Tochter vor, ich folgte ihm mit einem anderen Wagen. Plötzlich, als wir gerade an einer Kreuzung ankamen, sah ich, wie ein Polizeiauto über die rote Ampel raste. Es rammte den Wagen, in dem mein Freund und seine Tochter saßen. Beide starben.
Mein erster Wunsch war, den Polizisten zu erschießen. Er war auch noch besoffen. Seine Kollegen versuchten, den Fall zu verschleppen. Wir brachten ihn aber vor Ge-richt. Das Urteil lautete: Bewährungsstrafe. Wir ließen nicht nach und haben es ge-schafft, den Mörder hinter Gitter zu bringen. Bald wurde er aber entlassen, wegen guter Führung. Damals ist mir klar geworden, dass mein Leben sich kardinal verändert hat. Dass meine Arbeit in der Wirtschaft nichts wert ist, wenn ich hilflos zusehen muss, wie mein Kindheitsfreund stirbt und ich keine Gerechtigkeit erreichen kann."
Allein in Moskau, allein in seinem Erdgeschoss-Büro, wo er in einem Hinterzimmer sein Bett aufgeschlagen hat, arbeitet Sergej oft bis tief in die Nacht.
"Wir wollen das korrupte System zurechtrücken. Es kann doch nicht angehen, dass 70 Prozent aller Bußgelder schwarz auf die Hand bezahlt werden und der Staatsetat bekommt nur 30 Prozent. Wie kann man unter diesen Umständen von Sicherheit im Verkehr sprechen? Wer weiß, dass man die Polizei immer bestechen kann, muss nicht auf Verkehrsregeln achten. So wird jeder zur Gefahr für andere Autofahrer, und sie wiederum für einen selbst. Die Korruption ist wie ein Geschwür. Besonders spür-bar ist sie auf der Straße."
Im Bestechungsindex von Transparency International ist Russland um acht Stellen auf Platz 154 abgerutscht, wo es neben Papua-Neuguinea, Kenia und Laos rangiert. Die Internetbibliothek public.ru veröffentlicht bereits zum dritten Mal ein "Handbuch des korrupten Beamten" mit aktualisierten Preisen für bestimmte "Dienstleistungen": Der Abgeordnetensitz in der Staatsduma kostet fünf Millionen Euro. Ein Studienplatz an der Lomonossow-Universität ist ab 40.000 Euro zu haben. Für nur 2500 Euro gibt es den entzogenen Führerschein zurück.
Trotz des ironischen Titels basieren alle Daten auf aufgedeckten, oft skurrilen Korruptionsfällen, über die in der Presse berichtet wurde. Zum Beispiel über einen Verkehrspolizisten, der mit 2000 erpressten Rubeln erwischt wurde. Er sperrte sich in seinen Dienstwagen ein und aß die Geldscheine auf. Die Verkehrspolizisten in Russ-land betreiben nicht nur einen Ablasshandel wie im Mittelalter. Oft verleiten sie sogar die Verkehrsünder zu ihren Vergehen. Es gibt Straßenabschnitte, wo an einem Tag Dutzende Autofahrer entweder ihre Führerscheine verlieren oder blechen müssen. Solche Stellen spürt der Rechtsanwalt und Bürgerrechtler Jurij Schulipa auf. Er be-arbeitet die Meldungen von Betroffenen oder ist wie heute quer durch Moskau unter-wegs auf der Suche nach so genannten "Fallen" der Verkehrspolizei.
"Die Mehrheit der Autofahrer in Russland ist gesetzestreu, sie würden nie vorsätz-lich einen Rechtsbruch begehen. Aber sehen Sie mal, diese Verkehrszeichen! Sie hängen so, dass die meisten Fahrer sie einfach nicht sehen können. Die Polizei ver-steckt die Straßenzeichen manchmal so geschickt, dass sie von der Straß e aus nicht sichtbar sind. Der Fahrer fährt vorbei und kommt geradewegs in einen Hinterhalt."
Eine der Stellen hat Jurij auf Video dokumentiert und mit seinem Rechtsgutachten an die Medien übergeben. Der Chef der Verkehrspolizei musste schließlich vor der Fern-sehkamera versichern, dass dort keine Autofahrer mehr bestraft werden. Andere Fal-len schnappen immer noch zu. Die Verkehrspolizei sichert sich dadurch ihr Ein-kommen, und nicht nur das.
"Je mehr Verstöße ein Beamter protokolliert, desto schneller steigt er auf. Ein Leutnant wird zum Oberleutnant befördert, dann zum Hauptmann. Auch sein Vor-gesetzter, der derart beeindruckende Leistungen vermelden darf, klettert schneller hoch auf der Karriereleiter. Nach diesem Prinzip arbeitet das gesamte System der Strafverfolgung."
Jurij von der Autofahrerbewegung war früher selbst Teil dieses Systems. Er hat eine Akademie der Staatssicherheit absolviert und arbeitete bis vor fünf Jahren als Ver-kehrssicherheitschef in einem Fuhrpark des Kreml. Der 31-Jährige lernte das System Korruption so aus der Sicht von Gewinnern und Verlierern kennen, lange bevor er die Fronten wechselte.
"Als ich meinen Führerschein hatte, habe ich einen gebrauchten Moskwitsch ge-kauft. Der war drei Jahre älter als ich. Also lass ich den Wagen überholen, bekomme einen TÜV-Schein und fahre los. Ein Polizist hält mich an. Er hat eine Alkoholfahne und er unterstellt mir, einer meiner Reifen entspreche nicht den Sicherheitsvor-schriften. Ich halte ihm den TÜV-Schein hin. Dann will er den Verbandkasten sehen, dann den Feuerlöscher und das Warndreieck. Ich hatte alles da. Dann sagt der Polizist: "Wie kann man nur so geizig sein!" – "Wieso denn geizig?" frage ich. Und er: "Denkst du etwa, ich stehe einfach so hier rum?"
Seitdem habe ich einen richtigen Ekel vor solchen Beamten. Im Regierungsfuhrpark konnten sie uns natürlich keine Probleme machen, aber ankämpfen gegen die zügel-lose Korruption konnte ich dort auch nicht. Zum Beispiel der Wagen dort, der mit der Blaulichtanlage auf dem Dach. Er gehört einem hochgestellten Staatsbeamten. Im Straßenverkehr verhalten sich solche Wagen ausnehmend frech und rücksichtslos. Sie missachten Verkehrsregeln, sie schneiden anderen Autos den Weg ab und ver-ursachen Unfälle. Viele Unfallopfer kommen dann zu uns, aber es ist eine schwierige Aufgabe, ihre Unschuld zu beweisen."
Nach der Demonstration vor dem LUKOIL-Hauptquartier hat der Vorsitzende des Au-tofahrerbundes Sergej Kanajew eine unabhängige Expertise des Unfalls mit dem LUKOIL-Vize durchführen lassen. Neue Beweise und Zeugen waren für die offizielle Ermittlung vernichtend, trotzdem wurde der Fall nicht wieder aufgerollt. Heute nimmt Sergej an der Protestfahrt teil. Die Aktivisten steigen in ihre Autos und auf ihre Fahr-räder. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung und fährt Richtung Kreml.
Am 20. November fand eine weitere russlandweite Protestaktion der Autofahrer statt. Die Untersuchung des Unfalls mit dem LUKOIL-Vize wurde inzwischen wieder auf-gerollt. Das Ergebnis ist noch offen.