Blättern statt Klicken

Ein riesiges Nachschlagewerk in Papierform hat auch im Netzzeitalter seine Berechtigung - das beweist "Riemanns Musiklexikon" in seiner Neuauflage. Mit terminologischer Präzision und sorgsamer Gewichtung liefert es auch 130 Jahre nach seiner Premiere zeitlose Infos.
In einer Zeit, in der die Informationsbeschaffung fast ausschließlich über das Internet betrieben wird, mag es wie eine romantische Schnurre anmuten, wenn ein Lexikon – ein traditionsreiches zumal – eine Neuauflage in Papierform erfährt. Wer braucht so etwas, in Zeiten von Googlebooks und Wikipedia? Doch je intensiver man sich mit der 13. Neuauflage beschäftigt, desto stärker zieht man all die Abgesänge auf das Lexikon infrage, die in solchen gedruckten Nachschlagewerken die letzten Zuckungen eines bürgerlichen Bildungsanspruchs aus dem 19. Jahrhundert sehen. Denn der aktuelle "Riemann" ist bemerkenswert auf der Höhe der Zeit und bindet dabei nicht nur die Traditionslinien bisheriger Musikgeschichtsschreibung ein, sondern kündet auch offensiv vom Wandel der Betrachtungsweisen und Bewertungspraktiken über den Zeitraum von 130 Jahren.

1882 hat Hugo Riemann die erste Auflage seines Musiklexikons veröffentlicht und danach noch acht weitere verantwortet. Der Wandel, den diese neun Ausgaben dokumentieren, ist beachtlich und muss dem Herausgeber sehr bewusst gewesen sein. Dennoch steht der "Riemann" fest auf dem Boden der Musikhistoriografie des 19. Jahrhunderts – man spürt einerseits, dass 1882 das Interesse an der Musik der Vergangenheit ein noch relativ junges Phänomen war, worauf Riemann in seinem Vorwort ausdrücklich verweist: Es sei auch darum gegangen, "auch für ältere Epochen der Musikgeschichte Interesse und Verständnis in weiteren Kreisen zu wecken". Andererseits ist der Hang zur bewertenden Einordnung und raunenden Feierlichkeit unübersehbar. Zeittypische Phänomene - wie der Geniekult des ausgehenden 19. Jahrhunderts - wirkten unabgemildert in die Betrachtungsweise hinein.

In der aktuellen Neuauflage – es handelt sich um eine Überarbeitung der komprimierten Fassung, die 1995 gemeinsam von Brockhaus und Schott publiziert wurde – ist nichts mehr zu spüren von dieser schwärmerischen, urteilsfreudigen Perspektive des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Hier stehen Neutralität und vor allem Präzision in der Terminologie im Vordergrund, die Perspektive ist wertungsfrei, die Faktenlage verlässlich und auf der Höhe der Forschung, vor allem aber – das zeigt eine Untersuchung der Artikel über Phänomene der außereuropäischen Musik – frei von eurozentrischen Färbungen: Die zahlreichen "turns" lassen grüßen.

Diese terminologische Präzision ist es, die den "Riemann" heute herausstechen lässt aus dem Reigen der Musiklexika – Herausgeber Wolfgang Ruf kommt aus der Freiburger Eggebrecht-Schule, die terminologische Fragen mit besonderer Sorgfalt und Achtsamkeit behandelt.

So ist denn die Herausgeber-Absicht, "einem möglichst breiten Kreis von Benutzern ein bequem zu handhabendes Nachschlagewerk zu allen Sachfragen und Grundbegriffen der Musikpraxis und Musiktheorie zu bieten und auf knappstem Raum möglichst genaue Informationen über Personen aus den Bereichen der Komposition, der nachschöpferischen Interpretation und der Fachwissenschaft zu ermitteln", mit dieser Neuauflage sehr überzeugend erfüllt worden. Ein Vergleich mit vorigen Ausgaben ergibt, dass insbesondere die Darstellungen außereuropäischer Musikkulturen in ihren historischen Zusammenhänge entwickelt und Strömungen der zeitgenössischen Musik stärker berücksichtigt werden. Eine nicht zu unterschätzende Leistung ist die redaktionelle Arbeit, die eine sorgsame Gewichtung der Betrachtungsgegenstände leistet und transparente Kriterien benennt.

Damit wäre auch die Frage beantwortet, warum man denn im Internet-Zeitalter überhaupt noch ein gedrucktes Lexikon benötigt: Kriterien und Maßstäbe sind in diesem über 2500 Seiten starken Werk einheitlich gehalten – eine Einheitlichkeit, die eine Serie von Wikipedia-Artikeln der unterschiedlichsten Provenienz unmöglich bieten kann. Auch sind gerade jene Artikel, die Überblicksdarstellungen über musikalische Epochen oder Phänomene liefern, mit zahlreichen Querverweisen angereichert – da ersetzt das Blättern den Klick auf den Internet-Link vollauf. Das Riemann-Musiklexikon ist daher im allerbesten Sinne zeitlos.

Besprochen von Holger Hettinger

Wolfgang Ruf (Hrsg.): Riemann Musiklexikon. Aktualisierte Neuauflage in fünf Bänden
Schott Verlag, Mainz 2012
2532 Seiten, 169 Euro