Bittere Rückschau auf ein leidvolles Leben
Nach dem Freitod ihres Enkels Bill will Lilly Bere auch nicht mehr weiter machen. Doch vorher schreibt die 89-Jährige noch die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens nieder, eines Lebens, das durch Tod, Enttäuschungen und dem Leben im Exil gekennzeichnet war.
Der 89-jährigen Lilly Bere hat es das Herz gebrochen. Ihr Enkel Bill hat sich mit einer Krawatte am Haken einer Tür erhängt, kurz nachdem er aus dem Golfkrieg zurückgekehrt war. Lilly fasst den Entschluss, ihm in den Tod zu folgen. Vorher aber schreibt sie in einer großen Rückschau ihre wichtigsten Erinnerungen in einem alten Haushaltsbuch auf – an ein Leben, das von Verlusten geprägt ist.
Ihr älterer Bruder kehrte nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurück, in den 1920er-Jahren muss sie mit ihrem Verlobten Tadg Irland verlassen, weil dieser sich auf die "falsche" Seite, die der Briten, geschlagen hatte. Die IRA verfolgt ihn allerdings bis in die USA, und er wird dort ermordet. Lilly gelingt zwar der Absprung in einen neuen Lebensabschnitt, doch glücklich wird die Ich-Erzählerin auch im verheißungsvollen Amerika – im Original heißt das Buch "Canaan's Land" – nicht. In den weiteren 70 Jahren ihres Lebens hat Lilly noch viele Tote zu betrauern, und sie fühlt sich bis ins hohe Alter von den Mördern ihres Mannes verfolgt.
Sebastian Barrys neuer Roman besticht durch den starken Kontrast zwischen den aufwühlenden Erlebnissen seiner Protagonistin und deren zurückgenommenem, sachlich-nüchternen Erzählstil. Lilly ist nicht etwa verbittert, obwohl man Verständnis dafür haben könnte, aber sie kann das Leben nicht mehr lieben, zu gegenwärtig sind Kriegstraumata, Enttäuschungen, Verrat, Rassismus und auch ihr langes Exil. Ihr zweiter Ehemann verschwindet während Lillys Schwangerschaft, und auch der Leser verdächtigt ihn eines Mordes, fälschlicherweise, wie man erst sehr viel später im Roman erfährt.
Viele bedrohliche Wendungen in Lillys Leben ereignen sich urplötzlich, ohne jede Vorankündigung. So wie sie als Teenager ihr geliebtes Irland verlassen musste, erlebt sie in Amerika die prekäre Notlage der Indianer mit, und sie fragt sich, ob es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt gibt. Ist vielleicht gar nicht Amerika, sondern doch Irland "Canaan's Land"? Oder gibt es gar kein "Gelobtes Land"?
Es gibt durchaus auch Anlass zur Freude in Lillys Aufzeichnungen. Manche Einblicke, die der Leser in Lillys Leben erhält, sind recht intim, aber niemals verletzen sie die Würde der Hauptfigur.
Man könnte bemängeln, Sebastian Barry habe etwas zu viel Dramatik in Lillys Leben gelegt: Der oben genannte, kunstvolle Kontrast wäre auch dann schon deutlich geworden, wenn der Autor sich auf weniger katastrophale Ereignisse beschränkt hätte, doch die vielen leisen Momente und Lillys Gedanken zu allem, was ihr widerfahren ist, machen das mehr als wett. So die Erinnerung an eine übermütige Achterbahnfahrt mit ihrem zukünftigen zweiten Ehemann, die Lilly traurig macht, weil sie das Erlebnis durch die späteren Ereignisse nicht mehr ungetrübt sehen kann.
Es ist aber nicht der bittere Spiegel der Rückschau, der Lilly die letzte Hoffnung verwehrt, sondern – durch den Tod ihres Enkels – der Gedanke daran, dass sie in ihrem Leben wohl keinen Trost mehr finden kann.
Besprochen von Roland Krüger
Sebastian Barry: Mein fernes, fremdes Land. Roman
Aus dem Englischen von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag, Göttingen 2012
314 Seiten, 19,90 Euro
Ihr älterer Bruder kehrte nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurück, in den 1920er-Jahren muss sie mit ihrem Verlobten Tadg Irland verlassen, weil dieser sich auf die "falsche" Seite, die der Briten, geschlagen hatte. Die IRA verfolgt ihn allerdings bis in die USA, und er wird dort ermordet. Lilly gelingt zwar der Absprung in einen neuen Lebensabschnitt, doch glücklich wird die Ich-Erzählerin auch im verheißungsvollen Amerika – im Original heißt das Buch "Canaan's Land" – nicht. In den weiteren 70 Jahren ihres Lebens hat Lilly noch viele Tote zu betrauern, und sie fühlt sich bis ins hohe Alter von den Mördern ihres Mannes verfolgt.
Sebastian Barrys neuer Roman besticht durch den starken Kontrast zwischen den aufwühlenden Erlebnissen seiner Protagonistin und deren zurückgenommenem, sachlich-nüchternen Erzählstil. Lilly ist nicht etwa verbittert, obwohl man Verständnis dafür haben könnte, aber sie kann das Leben nicht mehr lieben, zu gegenwärtig sind Kriegstraumata, Enttäuschungen, Verrat, Rassismus und auch ihr langes Exil. Ihr zweiter Ehemann verschwindet während Lillys Schwangerschaft, und auch der Leser verdächtigt ihn eines Mordes, fälschlicherweise, wie man erst sehr viel später im Roman erfährt.
Viele bedrohliche Wendungen in Lillys Leben ereignen sich urplötzlich, ohne jede Vorankündigung. So wie sie als Teenager ihr geliebtes Irland verlassen musste, erlebt sie in Amerika die prekäre Notlage der Indianer mit, und sie fragt sich, ob es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt gibt. Ist vielleicht gar nicht Amerika, sondern doch Irland "Canaan's Land"? Oder gibt es gar kein "Gelobtes Land"?
Es gibt durchaus auch Anlass zur Freude in Lillys Aufzeichnungen. Manche Einblicke, die der Leser in Lillys Leben erhält, sind recht intim, aber niemals verletzen sie die Würde der Hauptfigur.
Man könnte bemängeln, Sebastian Barry habe etwas zu viel Dramatik in Lillys Leben gelegt: Der oben genannte, kunstvolle Kontrast wäre auch dann schon deutlich geworden, wenn der Autor sich auf weniger katastrophale Ereignisse beschränkt hätte, doch die vielen leisen Momente und Lillys Gedanken zu allem, was ihr widerfahren ist, machen das mehr als wett. So die Erinnerung an eine übermütige Achterbahnfahrt mit ihrem zukünftigen zweiten Ehemann, die Lilly traurig macht, weil sie das Erlebnis durch die späteren Ereignisse nicht mehr ungetrübt sehen kann.
Es ist aber nicht der bittere Spiegel der Rückschau, der Lilly die letzte Hoffnung verwehrt, sondern – durch den Tod ihres Enkels – der Gedanke daran, dass sie in ihrem Leben wohl keinen Trost mehr finden kann.
Besprochen von Roland Krüger
Sebastian Barry: Mein fernes, fremdes Land. Roman
Aus dem Englischen von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag, Göttingen 2012
314 Seiten, 19,90 Euro