Bitte nicht in den Mantel helfen

10.04.2013
Höflichkeit ist nicht nur angenehm und freundlich, sondern verletzt auch, findet die Soziologin Iva Fidancheva. Denn Höflichkeit kann auch Druck ausüben. Wenn ein Chef das Du anbietet, wird kaum ein Arbeitnehmer ablehnen - auch wenn er den Chef lieber siezen würde.
"Erlauben Sie mir, Ihnen in den Mantel zu helfen? – Aber nein, das ist doch nicht nötig! – Doch, lassen Sie nur. – Ich schaffe es schon allein."

Die Soziologin Iva Fidancheva widmet ihr Buch der "Schattenseite" der Höflichkeit, ihrer verletzenden Dimension, die zum Beispiel auftritt, wenn wir uns verkannt fühlen. Im obigen Beispiel mag sich ein älterer Herr als jung genug empfinden, um ohne Hilfe in seinen Mantel zu schlüpfen. Eine Vorgesetzte ärgert sich vielleicht über das ungebetene Kavaliersverhalten eines männlichen Assistenten, der mit ihrer Jacke winkt. Oder der Kavalier selbst fühlt sich vor der Garderobe der Form halber genötigt, einer Dame in den Mantel zu helfen, die er gar nicht leiden kann.

Iva Fidancheva rückt ein Phänomen in den Blick, das in der bisherigen "Höflichkeitsforschung" vernachlässigt wurde. Zuvor wurde Höflichkeit als sozialer Klebstoff geschätzt: Von Kindesbeinen an lernen wir die Spielregeln des zivilisierten Miteinanders, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Durch höfliches Benehmen erweisen wir unserem Gegenüber Respekt und demonstrieren zugleich, dass wir die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des sozialen Umgangs beherrschen - wir "gehören dazu". Doch diese Anstandsregeln sind nicht in Stein gemeißelt, sie verändern sich ständig, wie Fidancheva im zweiten Teil über die Entstehung der Höflichkeit eindrücklich aufzeigt.

In einem historischen Exkurs untersucht die Autorin das mittelalterliche Hof-Zeremoniell als Geburtsstunde der Höflichkeit. Die ritterlich-feudale Etikette war streng und präzise geregelt, da sie die Stellung jedes einzelnen in der sozialen Ordnung widerspiegelte. Höflichkeit diente zur Abgrenzung von den Unterschichten, die Etikette war Ausdruck der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Im Zeitalter der Aufklärung wird das zwanghafte Befolgen von Konventionen abgelehnt: Anstelle des "falschen Glanzes" des feudalen Zeremoniells steigen Einfachheit und Offenheit zum neuen Verhaltensideal auf. In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wird Höflichkeit schließlich rationaler, überlegter und folgt einer Logik der wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung.

Besonders spannend wird es, wenn Iva Fidancheva unsere aktuellen Verhältnisse in den Blick nimmt. So beschreibt sie eine Reformalisierung der (westlichen) Gesellschaft seit den 1980er und 1990er Jahren, das heißt eine gestiegene Bedeutung der Etikette und eine Zunahme von Höflichkeitsgesten – vor allem im beruflichen Bereich. Verletzende Höflichkeit sieht die Autorin etwa am Werk, wenn das angebotene "Du" seitens des Chefs zu akzeptieren ist, auch wenn die Person der Meinung ist, dass gar kein enges Verhältnis besteht. Oder wenn Arbeitnehmer in der Sprache der "political correctness" von ihrem Vorgesetzten "freigestellt" werden, eine höfliche Verschleierung ihrer Kündigung.

Leider nähert sich Iva Fidancheva dem spannenden Thema der verletzenden Höflichkeit mit einer Sprache, die allzu oft nach sozialwissenschaftlichem Schwarzbrot klingt: theorielastig, voller Fachbegriffe und (den wissenschaftlichen Konventionen gemäß) mit Fußnoten gepflastert. Das schränkt den Lesespaß zwar ein, trotzdem rückt "Die verletzende Macht der Höflichkeit" ein spannendes Phänomen in den Blick, das gerade auch für die heutige Gesellschaft wichtige Aufschlüsse liefert.

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Iva Fidancheva: Die verletzende Macht der Höflichkeit
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2013
256 Seiten, 27,90 Euro