Bitte keine Große Koalition!

Von Günter Müchler |
Als Müntefering und Schröder am Abend des 22. Mai die Absicht, Neuwahlen herbeizuführen, erklärten, schien ihnen der Preis einer Verfassungskrise nicht zu hoch, um den drohenden Zerfall der SPD aufzuhalten. Ihr Kalkül ist nicht aufgegangen.
Rot-Grün kann vom Machterhalt nur träumen. Kometenhaft hat sich dagegen ein Linksbündnis aus ostsozialistischen Altkadern und marxistischen West-Sektierern unter dem Desperado Lafontaine vor die Fernsehkameras geschummelt. Die so genannte Linkspartei besitzt eine zweistellige Wahlperspektive und bedroht den Neubeginn.

Die Große Koalition als Ergebnis Schröderschen Mutwillens: Das hätte uns noch gefehlt! Wohl hält die Demokratie viel aus. Doch eine Große Koalition ist immer nur Notbehelf, Verbindung "faute de mieux", weil anderes nicht zustande kommt. In der aktuellen staatspolitischen Situation Deutschlands wäre sie ein Albtraum.

Eine Notlösung war auch die Große Koalition von 1966 bis 1969, die bisher einzige auf Bundesebene. Eher beiläufig wurde sie heraufbeschworen durch Abnützung innerhalb der damaligen bürgerlichen Koalition, forciert durch Fehleinschätzungen von CDU-Politikern, die Erhard loswerden wollten.

Krisenangst besorgte den Rest. Die Bundesrepublik erlebte damals die erste Rezession. Im Herbst 1966 gab es 100.000 Arbeitslose. Das Haushaltsdefizit des Bundes lag bei rund drei Milliarden D-Mark. Lilliput-Probleme wahrhaftig; doch in jener Zeit fehlte den Menschen noch die dialektische Fähigkeit, Hässlichkeiten schönzureden. Das Erschrecken war so groß, dass eine Zusammenfassung aller Kräfte als das Gebot der Stunde erschien.

Rückblickend brachte es die Große Koalition unter Kiesinger und Brandt zu einer durchwachsenen Leistungsbilanz. Die Notstandsgesetzgebung wurde über die Hürde gebracht, die Rezession überwunden. Hingegen blieb das erklärte Ziel, durch Einführung des Mehrheitswahlrechts die lästige FDP auszuschalten, auf der Strecke. Als fatal erwies sich die zunächst gepriesene Änderung der Finanzverfassung. Die neuen Gemeinschaftsaufgaben verwischten die Trennlinien zwischen Bund und Ländern, vernebelten Verantwortung und beförderten die Krankheit des Föderalismus, deren Heilung heute ganz oben auf der Agenda steht.

Eine rätselhafte Anziehungskraft ist der Großen Koalition als Form dennoch geblieben. Offenbar bedient sie die Sehnsucht nach Harmonie. Sie steht im selben Bedeutungszusammenhang, in dem auch politische Kuschelbegriffe wie "Burgfrieden" oder "Volksfront" beheimatet sind. An Stammtischen ist die Forderung, "dass alle jetzt an einem Strang ziehen müssen", verbreitet, und viel spricht dafür, dass die Verächtlichkeit, die sich der Berliner Politikbetrieb zugezogen hat, Lösungsmöglichkeiten jenseits von normal zusätzlich attraktiv macht.

Der Mythos von der Berge versetzenden Kraft einer Großen Koalition hält jedoch einer nüchternen Analyse nicht stand. Es war ein Regime des Konsenses, das durch die Elefantenhochzeit von 1966 aufgerichtet wurde. Drei Jahre hielt es und war stabil genug, begrenzte Aufgaben zu bewältigen. Aber heute geht es um einen grundsätzlichen Neubeginn. Eine Verbindung von Union und SPD wäre dazu das schlechteste Instrument. War Schröder nicht in den letzten zwei Jahren praktisch Kanzler einer Großen Koalition? Seine Reformagenda besaß die Unterstützung von Union und FDP. Von einer Mobilisierung der Straße gegen die sozialen Kürzungen konnte keine Rede sein. Eine außergewöhnlich glückliche Konstellation - und dennoch scheiterte Schröders Reformpolitik. Sie scheiterte am Widerstand der eigenen Partei, mit ihr zerschellte der Nimbus der Großen Koalition als Wunderwaffe.

Eine von Frau Merkel geführte Große Koalition würde nicht mehr als Zeitverlust bedeuten, selbst dann, wenn es der Kanzlerin gelingen sollte, die eigene Partei auf einen eindeutigen Reformkurs festzulegen, wovon nicht zwingend ausgegangen werden kann. Und was die SPD nach Schröder betrifft: Natürlich würde sie ihre Hauptaufgabe darin sehen, der aufgemotzten PDS das Wasser abzugraben. Sie würde beschleunigt fortsetzen, was schon begonnen hat, nämlich nach links zu schwenken. Mit einem Wort: Formal eingebunden in Regierungsverantwortung würde die SPD taumeln zwischen lästiger Kabinettsdisziplin und populistischer Versuchung. Die nach dem Verschleiß der letzten Jahre fällige Regeneration könnte sie vergessen.

Deutschland braucht keine Große Koalition. Wir haben nicht zu wenig Konsens in der Republik. Die Konsensdemokratie hat sich vielmehr als Klotz am Bein erwiesen, der das erforderliche Anpassungstempo in einer sich rasch wandelnden Umgebung bremst. Was jetzt Not tut, sind klare Verantwortlichkeiten, ist eine Reformentschlossenheit, die anders als Schröders Agenda-Politik nicht ständig mit dem schlechten Gewissen kämpft, sondern durch Geradlinigkeit überzeugt. Eine bürgerliche Koalition mit einer mittelfristig stabilen Bundesratsmehrheit im Rücken könnte die Aufgabe stemmen, Auftrag vorausgesetzt.


Dr. Günter Müchler, geboren 1946 in Wuppertal, studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaften in München, Promotion zum Dr. phil.
1974 – 1978 Redaktionsleiter der Günzburger Zeitung
1978 – 1980 Redakteur bei der Deutschen Zeitung/Christ und Welt in Bonn (seit 1979 Ressortchef Innenpolitik)
1980 – 1985 Bonner Korrespondent der Augsburger Allgemeinen
1985 – 1987 Leiter der Parlamentsredaktion der Kölnischen Rundschau, Bonn
1987 – 1989 Leiter der Abteilung Aktuelles im Deutschlandfunk, Köln
1989 – 1994 Chefredakteur und Leiter der Hauptabteilung Politik und
Zeitgeschehen im Deutschlandfunk, Köln
seit Mai '94 Programmdirektor Deutschlandfunk im DeutschlandRadio, Köln
und seit Mai '04 Programmdirektor DeutschlandRadio Berlin, das seit März 05 in Deutschlandradio Kultur umbenannt wurde.

Buchveröffentlichungen
CDU/CSU: Das schwierige Bündnis (München 1976) und
"Wie ein treuer Spiegel". Die Geschichte der Cotta’schen Allgemeinen Zeitung.
(Darmstadt 1998)