Bislang wenig erforscht

Von Jens Brüning · 11.10.2006
Mit Gedichten, Romanen und Erzählungen reagierten deutsch-jüdische Autorinnen und Autoren wie Gertrud Kolmar oder Rudolf Frank 1933 bis 1945 auf Entrechtung, Ausgrenzung und Mord. Obwohl die nationalsozialistische Zensur allgegenwärtig war, gab es Schlupflöcher. Eine internationale Konferenz rückte in Berlin ihre Werke in den Mittelpunkt.
Am 3. August 1941 schrieb der zwei Jahre zuvor nach England geflohene Herbert Friedenthal an seinen Freund Kurt Hiller, der nach kurzer Haft in der Gestapozentrale in Berlin über Prag ebenfalls nach England entkommen konnte:

" Glaubst Du, dass es leichter war, im Hitler-Berlin Bücher zu publizieren, als in den Städten des demokratischen Auslands? Weißt Du, dass jedes meiner Worte von Hinkel (Reichskulturkammer) der Vorzensur unterworfen wurde? Und dass der Gebrauch selbst eines Wortes wie "blond" verboten war? Ich habe in Berlin nicht gegen Hitler schreiben können, sondern trotz Hitler. "

Kerstin Schoor von der Freien Universität Berlin, Initiatorin und Organisatorin der Tagung im Jüdischen Museum Berlin, zitierte diesen Brief in ihrem Einleitungsvortrag. Das jüdische Kulturleben zwischen 1933 und 1945 ist – bezogen auf das nationalsozialistische Deutschland – wenig erforscht. Die Teilnehmer der internationalen Konferenz entfalteten zum ersten Mal die unterschiedlichen politischen und künstlerisch-ästhetischen Aspekte der Literatur und Kunst, die im ausgegrenzten jüdischen Kulturkreis in Deutschland noch entstehen konnte.

Das zu bearbeitende Feld ist breit: 1292 in diesen Jahren veröffentlichte Buchtitel aus 30 jüdischen Verlagen, von denen 24 in Berlin existierten, 65 Zeitungen und Zeitschriften mit teilweise umfangreichen literarischen Beilagen und Auflagen von bis zu 40.000 Exemplaren. Auf diese Publikationsmöglichkeiten waren jüdische Autorinnen und Autoren beschränkt. Sie reagierten mit ihren Gedichten, Romanen, Erzählungen auf Entrechtung, Ausgrenzung und Mord. Und obwohl die nationalsozialistische Zensur allgegenwärtig war, gab es Schlupflöcher. Die niederländische Germanistin Saskia Schreuder:

" Noch im Jahre 1936 besteht "Ahnen und Enkel" auf der schöpferischen Teilhabe von Juden an der allgemeinen Kultur und das, nachdem im Jahr zuvor Sigmund Katzenelsons Sammelband "Juden im deutschen Kulturbereich" verboten und eine Ausgabe des "Morgen" wegen Margarete Susmans Essay über den Beitrag der Juden in der deutschen Kultur beschlagnahmt worden war."

"Ahnen und Enkel" ist ein Roman in Erzählungen, den der Theatermann und Schriftsteller Rudolf Frank 1936 in der Jüdischen Buchvereinigung Berlin herausbrachte. Im selben Jahr floh er über Österreich in die Schweiz. Die Erzählungen berichten von der deutsch-jüdischen Vergangenheit, die Rahmenhandlung ist ein Aufruf zur Flucht, wohin auch immer. Der in Detroit lehrende Germanist Guy Stern lernte als Jugendlicher mit dem Vornamen Günther das Buch noch in seiner Vaterstadt Hildesheim kennen:

" Frank war sich natürlich bewusst, dass das schillernde Land Burma lediglich Symbol sein konnte, Zitat: "Das Land Birma steht für manches andere Ziel, weil’s uns eben am fernsten, Bingen am Rhein für viele andere Städte, da es mir wohl am nächsten liegt." Ihm ging es darum, die Glaubensgenossen zur Auswanderung zu ermutigen. "

Auch Rudolf Frank wurde durch die nationalsozialistische Rassenpolitik nachdrücklich auf sein Judentum aufmerksam gemacht. Die deutschen Juden begannen aufgrund der Diskriminierung durch die Rassengesetze, nach Herkunft und Zukunft zu suchen. So gab es viele Publikationen zur jüdischen Geschichte und zur jüdischen Religion, und die zionistische Bewegung bekam auch in der Kinder- und Jugendliteratur publizistischen Rückhalt. Diese Hinwendung zum Zionismus wurde von vielen deutschen Juden skeptisch kommentiert.

Betty Scholem, die Mutter des bereits 1922 nach Jerusalem umgezogenen Religionshistorikers und Philosophen Gershom Scholem, schrieb im März 1932 in einem Brief an ihren Sohn:

" Jetzt auf einmal möchten alle in Palästina sitzen. Wenn ich bedenke, was für ein Geschrei sich in der deutschen Jüdischkeit erhob, als der Zionismus begann! Unser Vater und Väterchen Hermann L. und der ganze Central-Verein schlugen überzeugt an die Brust: "Wir sind Deutsche!" Jetzt wird uns mitgeteilt, dass wir keine Deutsche sind."

Itta Shedletzky vom Zentralarchiv der Universität Jerusalem zitierte aus einem Brief von Betty Scholem. Solche Briefe sind eine wichtige Quelle. Sie geben Auskunft über die Lebensumstände der ausgegrenzten Juden im Nazistaat.

Am Montagabend las die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger aus Werken jüdischer Autorinnen und Autoren, die in Deutschland geblieben waren oder bleiben mussten, unter ihnen die heute weithin bekannte Lyrikerin Gertrud Kolmar. Ihr Werk wurde zum größten Teil postum veröffentlicht. Gertrud Kolmar schrieb am 10.9.1939 an ihre in der Schweiz lebende Schwester Hilde Wenzel:

" Die Zukunft ist dunkel. Und selbst, wenn es mir möglich wäre, bald von hier fort zu kommen, ausgeschlossen ist das nämlich nicht, so darf ich doch von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen, denn ich kann und will Vati gerade jetzt nicht allein lassen."

Die Konferenz zur deutsch-jüdischen literarischen Kultur im nationalsozialistischen Deutschland war ein erster breit gefächerter Versuch. Nachdem die deutsche Exil-Literatur und die Literatur der so genannten Inneren Emigration inzwischen weitgehend aufgearbeitet sind, eröffnet sich hier eine neue Perspektive. Welche unvermuteten Schätze in den einschlägigen Archiven zu finden wären, wenn jemand danach suchte, war in diesen Tagen ansatzweise zu erfahren.

Service:

Die Internationale Konferenz der Freien Universität Berlin, des Jüdischen Museums Berlin und des Leo Baeck Instituts New York "Zwischen Rassenhass und Identitätssuche: Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland" fand vom 9. bis 11. Oktober 2006 in Berlin statt.