Bis nichts mehr übrig bleibt

Von Jörg Plath · 11.10.2013
So nah wie in seinen Tagebüchern kam man dem ungarischen Schriftsteller Imre Kertész noch nie. Der Nobelpreis sei eine "Glückskatastrophe" gewesen, schreibt er, er schildert aber auch quälende Ängste und gesundheitliche Probleme.
Schreibend sucht Imre Kertész dem bloßen Funktionieren zu entkommen – der Schicksallosigkeit. Leben bedeutet Kollaboration. Nur indem er sich der Logik des Vernichtungslagers fügte, überlebte Kertész als Jugendlicher Auschwitz und Buchenwald. Dreizehn Jahre arbeitete er während des ungarischen Stalinismus an dem "Roman eines Schicksallosen", in dem ein Jugendlicher alle Maßnahmen zu seiner eigenen Vernichtung im KZ Auschwitz als vernünftig und gut organisiert beurteilt. Indem sich Kertész ästhetisch mit der Schande der Kollaboration konfrontierte, gewann er die Freiheit.

Spät wurde der Verfasser dieses grandiosen, beklemmenden Romans, einem der wichtigsten des Jahrhunderts, berühmt, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Ist das ausgleichende Gerechtigkeit? Der Preis sei eine "Glückskatastrophe", eine Absurdität, schreibt Kertész in "Letzte Einkehr", seinem neuen Band mit Tagebüchern aus den Jahren 2001 bis 2009 sowie einem Prosafragment. Zwar freut ihn die materielle Sorglosigkeit, auch das späte Glück mit der zweiten Ehefrau Magda. Doch beides droht, das selbstgewählte, erschriebene Leben zu vernichten, die Liquidation im Ästhetischen, dank der es Kertész weiter aushalten konnte in einer Welt, deren christliche Zivilisation durch Auschwitz Bankrott erlitten hat. Sehnsüchtig erinnert sich der nun berühmte, von vielen geliebte und überall gefragte Kertész an die ungarische Diktatur. Die Zeit sei hart und bitter gewesen. Aber er konnte sie negieren und Glück und Freiheit in der Kunst finden.

Verstummen nach dem "Terror des Alters"
Kertész versucht es erneut. Wegen seiner Parkinson-Erkrankung greift er zum Laptop und plant 2003 ein "radikal persönliches Buch, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt (Die letzte Einkehr). Den Weg zu Ende gehen, im wortwörtlichen Sinn. Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie."

Doch die Arbeit an "Die letzte Einkehr" scheitert nach weniger als einem Jahr. Kertész legt den Text beiseite und führt das Tagebuch "Geheimdatei" als "Garten der Trivialitäten" weiter. Daneben entstehen "Dossier K." (2006), eine Autobiografie "in zwei Stimmen", und das Drehbuch zum "Roman eines Schicksallosen".

Das Tagebuch ist auch ohne die luziden philosophischen Reflexionen des "Galeerentagebuchs" nicht trivial. Kertész schildert gesundheitliche Probleme und Ängste, das Glück mit Magda, die erotischen Freuden und Leiden, der Umzug nach Berlin wegen des grassierenden Antisemitismus in Ungarn sowie die vielen Aufenthalte im Ausland. Auch von quälenden Minderwertigkeitsgefühlen berichtet der in der Öffentlichkeit stets bemerkenswert heitere und gelassene Autor. So nah kam man Imre Kertész noch nie.

Am Ende des Bandes "Letzte Einkehr", der als Zeugnis des Scheiterns auch das Fragment "Die letzte Einkehr" enthält, steht das "Exit-Tagebuch". Es ist wie "Die letzte Einkehr" kursiv gesetzt, also als künstlerischer Versuch gekennzeichnet, und schildert nach dem "unerträglichen Terror des Alters" das Verstummen. Der 80-jährige Kertész, krank und geschwächt, gestaltet das Ende, bevor es ihm zustößt. "Letzte Einkehr" ist ein bewegendes Buch des Abschieds: ein Freitod im Ästhetischen, begangen von einem freien Menschen.

Besprochen von Jörg Plath

Imre Kertész: "Letzte Einkehr. Tagebücher 2001-2009". Mit einem Prosafragment
Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013
464 Seiten, 24,95 Euro
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