Birthler bedauert Abschaffung des 17. Juni als Gedenktag

Moderation: Jacqueline Boysen und Norbert Wassmund |
Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, hat die Abschaffung des 17. Juni als Gedenktag für den Aufstand in der DDR als Fehler bezeichnet. Der Feiertag habe im Osten und im Westen aus verschiedenen Gründen im Schatten gestanden, sagte Birthler. Dass es wenig Proteste gegen die Abschaffung gegeben habe, sei ein Zeichen für mangelnden Stolz auf den Kampf vieler Menschen für Recht und Freiheit.
Deutschlandradio Kultur: Frau Birthler, der Aufstand von Arbeitern und anderen in Ostberlin und in der DDR rund um den 17. Juni 1953 hat in Westdeutschland kurz nach den Ereignissen damals zum einzigen nationalen Feiertag geführt, dem Tag der deutschen Einheit. Sie waren damals noch ein kleines Kind, ein Kind der noch nicht eingemauerten DDR. Wie hatte diese Revolution Sie geprägt und welche Folgen hatte sie für Ihr späteres Denken?

Marianne Birthler: Na, Kinder in diesem Alter – ich war mal gerade fünf Jahre alt – erleben ja vieles über die Erfahrung der Erwachsenen. Wahrscheinlich wäre das alles an mir vorbei gegangen, wenn es nicht zu Hause starke Eindrücke gegeben hätte, also, zuerst die Hoffnung meiner Eltern, der Satz, jetzt wird alles anders, der ist mir noch in Erinnerung, und dann Panzer, wobei ich nicht mal mehr genau weiß, ob ich die selber gehört habe oder ob ich Berichte davon gehört habe, und Verzweiflung und Tränen, also meine Mutter und mein Vater, die ganz verzweifelt waren, als die Panzer durch Berlin rollten und der Aufstand erstickt wurde. Das sind die stärksten Erinnerungen, die – glaube ich – dann später meine spätere Wahrnehmung vom 17. Juni auch geprägt haben.

Deutschlandradio Kultur: Mit der deutschen Einheit 1990 wurde der 17. Juni als Gedenktag zugunsten des 3. Oktober, dem Tag der deutschen Wiedervereinigung, ja abgeschafft. Sie haben in einer Rede zum 50. Jahrestag des Aufstandes in der DDR gesagt, das Ereignis habe „jahrzehntelang im Abseits der gesellschaftlichen Wahrnehmung gestanden“. War es auch aus heutiger Sicht richtig, auf den Feiertag in Erinnerung an den 17. Juni 53 zu verzichten?

Birthler: Ich glaube, nein. Das war ein Fehler, aber ich habe den damals auch nicht als solchen erkannt. Ich hätte ja widersprechen können, als man darüber diskutiert hat, andere auch. Die Diskussion im Jahre 2003, als wir über den 50. Jahrestag des 17. Juni diskutiert haben, als alle Leute Filme gesehen haben und die ganze Gesellschaft sich damit auseinandergesetzt hat, wenn die schon stattgefunden hätte, glaube ich, wäre der Feiertag auch nicht abgeschafft worden. Der stand wirklich aus verschiedenen Gründen im Osten und im Westen im Schatten. Aber irgendwie gab es auch wenig lautstarken Protest, als er entsorgt wurde.

Deutschlandradio Kultur: Das Denken, aber auch Debatten über den 17. Juni sagen ja viel aus über eine gesamtdeutsche oder eben doch noch nicht gemeinschaftlich geprägte oder empfundene deutsche Identität. In welcher Weise werden die für die jüngere deutsche Nachkriegsgeschichte insgesamt ja einmaligen Ereignisse heute in Ost und West wahrgenommen? Was sagt das eigentlich aus über uns?

Birthler: 40 Jahre in zwei ganz verschiedenen Gesellschaftssystemen zu leben, kann natürlich nicht spurlos an uns vorbei gehen. Wir haben verschiedene Erfahrungen gemacht. Der wesentliche Unterschied – denke ich – besteht darin, dass die Westdeutschen sich nach 1945 aufgemacht haben auf den Weg in eine Demokratie, in einen Rechtsstaat, in eine plurale Gesellschaft, in der vieles diskutiert wurde, während die große Hoffnung, darauf nun Diktatur und Krieg hinter sich zu haben, für die Ostdeutschen enttäuscht wurde und die Menschen weitere 40 Jahre gezwungen waren, unter den Bedingungen einer Diktatur zu leben, also insgesamt fast 60 Jahre ohne Freiheit, ohne Demokratie. Das hat natürlich Folgen.

Deutschlandradio Kultur: Noch heute hat man oft den Eindruck, man scheut sich eigentlich in West und Ost, couragiertes aufständisches Verhalten auch wirklich als mutig, als vielleicht heldenhaft oder als vorbildlich zu würdigen. Man hat den Eindruck, das gilt auch oder gerade für die Anerkennung der Verdienste Oppositioneller zum Ende der DDR. Wir verwenden z.B. ganz oft das Wort Wende, wenn doch eigentlich die Rede ist von der friedlichen Revolution. Was sagt das aus?

Birthler: Um noch einen Moment beim 17. Juni zu bleiben: Ich finde wirklich schade, dass wir die Tatsache, dass so viele Menschen gegen Unrecht und für Freiheit aufgestanden sind, nicht auch als eine Ressource für uns benutzen, stolz darauf sind, uns auf diese Leute beziehen. Nicht mal wir in der DDR-Opposition haben das gemacht, muss ich zu unserer Schande gestehen. Ich glaub, die demokratische Revolution von 89 wird ihren Platz in der Geschichte erst noch finden müssen. Jedenfalls für viele Menschen ist es eben doch bloß – ich sage es mal in Anführungsstrichen – die Wende. Der Begriff stammt ja von Egon Krenz. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Sicherlich ist es für Menschen, die nicht aktiv daran beteiligt waren, die so eine Revolution auch nicht wollten, dann auch im Nachhinein schwer stolz darauf zu sein oder sich positiv darauf zu beziehen. Mancher mag vielleicht auch beschämt sein, dass er nicht zur rechten Zeit das Richtige gedacht oder gesagt hat. Ich finde das aber eigentlich nicht zu spät dafür. Wenn jemand auch 15 Jahre danach noch seine Sicht verändert und sagt – ich kenne solche Leute – ich habe das damals zwar so nicht wahrnehmen können, aber jetzt bin ich sehr froh darüber, dass es diese Revolution gegeben hat, dann ist es ja in Ordnung.

Deutschlandradio Kultur: Frau Birthler, diese friedliche Revolution oder Wende, wie häufig oder meistens gesagt wird, hat natürlich ganz besonders einer Berufsgruppe den Boden unter den Füßen weggezogen, nämlich den Stasimitarbeitern, den Mitarbeitern der Staatssicherheit der DDR. Frühere Stasi-Mitarbeiter und Funktionäre treten in letzter Zeit ganz bewusst und zum Teil sehr aggressiv auf Veranstaltungen auf, bei denen es um DDR-Vergangenheit geht. Sie verunglimpfen dabei häufig die Opfer der SED-Diktatur und des Stasi-Apparates. Welche Gründe gibt es denn nach Ihren Erkenntnissen für diese zunehmenden Aktivitäten?

Birthler: Also, vorausschicken möchte ich, dass die Stasi-Offiziere ja nicht die einzigen sind, die unter einem gehörigen Bedeutungsverlust leiden. SED-Funktionäre, Kaderleiter, NVA-Offiziere… also, es gibt schon eine größere Gruppe von Menschen, die sich als Verlierer betrachten, als jene, die für eine gute Sache gekämpft haben, die sich dann nicht durchgesetzt hat. Das mag auch bei diesen alten Stasi-Offizieren eine Rolle spielen. Sicherlich hat es mehrere Gründe, dass sie jetzt sichtbarer agieren. Das haben sie in den ersten Jahren nach 89 nicht gewagt. Vielleicht liegt es daran, dass sie jetzt ihre Rente gesichert haben und sich um andere Dinge kümmern können. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie allmählich spüren, dass ihre Sicht der Dinge, ihre Interpretation der DDR immer mehr an Boden verliert und sich nicht durchsetzen wird. Das könnte auch eine Ursache sein, dass sie jetzt geradezu panisch mit immer wieder denselben Argumenten versuchen sich öffentlich bemerkbar zu machen. Es handelt sich aber nicht nur um eine Handvoll alter Männer, das muss man in diesem Fall natürlich sagen. Die haben auch ihren Beifall und ihre Unterstützung in bestimmten Milieus. Insofern ist das jetzt nicht ein Problem, was sich sozusagen über kurz oder lang biologisch erledigt haben wird.

Deutschlandradio Kultur: Wenn diese Stasi-Leute die Opfer verhöhnen und sich bemühen die Ereignisse gegenteilig darzustellen, zu relativieren, sich über Opfer lustig machen, dann verweisen sie ja oft selber darauf, dass sie, die alten Träger des Systems, strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen worden sind. Gibt ihnen sozusagen der Rechtsstaat selbst quasi einen Freibrief für ihr Handeln?

Birthler: Also, ich kenne dieses Argument und das ist an Zynismus kaum zu überbieten. Im Rechtsstaat gilt der Grundsatz, dass nur das strafrechtlich verfolgt werden kann, was auch zum Zeitpunkt der Tat mit den Gesetzen in Widerspruch stand. Und mit Ausnahme von Schwerverbrechen heißt das, dass nur das verfolgt werden darf oder vor Gericht verhandelt werden darf, was auch gegen DDR-Recht verstoßen hat. Und das ist ja gerade das Charakteristische an Diktaturen, dass sie jederzeit Unrecht in Rechtsform gießen können. Eine Diktatur hat immer die Möglichkeit, himmelschreiendes Unrecht in Form eines Gesetzes zu legalisieren. Das hat dann leider die Konsequenz, dass so ein Unrecht nicht zu bestrafen ist, mit der Folge, dass Erich Mielke z.B. sich zwar wegen zweier Morde vor Gericht verantworten musste, aber die lagen 50 Jahre zurück, und niemals musste er Rede und Antwort stehen zu den Verbrechen der Staatssicherheit.

Deutschlandradio Kultur: Haben diese Menschen eigentlich noch irgendeinen Einfluss heute? Und damit verbunden auch die Frage: Fühlen Sie sich, Frau Birthler, durch Ihre Tätigkeit und Ihre exponierte Stellung eigentlich persönlich gefährdet?

Birthler: Ich fühle mich nicht gefährdet, jedenfalls nicht mehr als andere Personen, die öffentlich agieren. Das Zweite ist, welchen Einfluss solche Leute haben. Ich finde, man darf ihn weder über-, noch unterschätzen. Eine allzu große Aufmerksamkeit jetzt wäre vielleicht auch zu viel der Ehre. Allerdings darf man es auch nicht bagatellisieren. Ich habe schon davon gesprochen, dass es bestimmte Milieus gibt, in denen solche Parolen durchaus ihren Anklang finden. Und wenn das dann sogar bis in die Schulen hinein reicht, dann – finde ich – ist schon angesagt, dass man sich damit auseinandersetzt. Für mich sind diese Aktivitäten auch eine Herausforderung noch mal verstärkt darüber nachzudenken, wie wir all das, was wir bereits über die DDR wissen, wie wir den Transfer in die breite Öffentlichkeit organisieren, in die Schulen, Universitäten hinein, auch in die Medien hinein. Da ist ja noch eine ganze Menge zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja selbst in Brandenburg Flagge gezeigt, als Sie 1992 wegen der eigentlich bis heute nicht wirklich aufgeklärten „Nähe“ von Ministerpräsident Stolpe zum Staatsapparat der DDR, zur Stasi, als Bildungsministerin zurückgetreten sind. Wie bewerten Sie heute ihren damals ja sehr aufsehenerregenden Schritt?

Birthler: Die Nähe zur Staatssicherheit ist durchaus aufgeklärt. Sie wird nur unterschiedlich interpretiert. Stolpe selber hat ja auch überhaupt kein Hehl daraus gemacht, dass er sich jahrzehntelang mit der Staatssicherheit auch getroffen hat.

Deutschlandradio Kultur: Aber wie intensiv das war… ?

Birthler: Mein Kommentar zu Stolpe war damals mein Rücktritt und ich habe dem bis heute nichts hinzuzufügen, weil die Sachverhalte sich ja nicht verändert haben.

Deutschlandradio Kultur: Hat das, hat dieser Schritt Ihr Verhältnis zu Menschen getrübt, die Ihnen ja auch in der Bürgerrechtsbewegung nahe standen, weil sie Manfred Stolpe die Treue gehalten haben, zum Beispiel Matthias Platzeck?

Birthler: Das ist schon manchmal schmerzlich, wenn Freunde zu anderen Ergebnissen kommen, auch in der Einschätzung einer Person. Aber das ist von vornherein kein Grund eine Freundschaft aufzukündigen.

Deutschlandradio Kultur: Frau Birthler, lassen Sie uns auf Ihre Arbeit kommen, auf die Arbeit Ihrer Behörde, die die Stasi-Unterlagen verwaltet, dokumentiert, aufarbeitet. Gerade aus dem Kreis der bisherigen PDS, die sich zwar um Verjüngung bemüht, sich aber nicht von SED-Altkadern und -Mitgliedern lossagt, wird immer wieder der Vorwurf erhoben, die Offenlegung der Akten, die Aufarbeitung diskriminiere die Ostdeutschen.

Birthler: Das ist interessant. Wenn Sie mir dazu eine Bemerkung erlauben? Wenn ich Vorträge halte, dann lasse ich gelegentlich meine Zuhörer schätzen, was sie denn meinen, wie hoch der Prozentsatz von DDR-Bürgern war, der mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hat. Die Schätzungen sind immer im zweistelligen Bereich. Das geht manchmal hoch bis zu 30 %, wenn ich frage, was meinen Sie denn, wie viel das waren. Die Stasi-Akten dagegen beweisen, dass wir kein Volk von Spitzeln und Verrätern waren, dass es weniger als zwei Prozent der DDR-Bürger waren, die für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Das heißt, die Öffnung der Stasi-Akten beschämt oder kränkt nicht nur die Ostdeutschen, sie rehabilitiert sie gegen dieses weit verbreitete Gefühl, die haben ja alle irgendwie mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet. Das muss man immer wieder sagen, dass die Stasi-Akten überhaupt nicht geeignet sind, die Ostdeutschen herabzusetzen, im Gegenteil. Auch die unzähligen guten Geschichten von Menschen, die widerstanden haben, die widersprochen haben über 40 Jahre oder die einfach nur im Alltag versucht haben, einigermaßen anständig zu bleiben, über die hat die Stasi überwiegend berichtet. Deren Geschichten finden wir in den Akten. Und das sind wunderbare Geschichten.

Deutschlandradio Kultur: Wie werden diese Geschichten Ihrer Meinung nach aufgenommen? Spüren Sie ein Veränderung von der Zeit Ihres Amtsantritts bis heute? Oder würden Sie sagen, das ist unverändert?

Birthler: Nein, das verändert sich allmählich. Jede Zeit hat ja offenbar ihre eigenen Fragen. Natürlich hat sich nach 1990 das größte Interesse erst mal auf die Frage konzentriert: Wer hat uns verraten? Das war ja das, was so unmittelbar den Leuten unter die Haut ging, zu befürchten, dass unter ihren Freunden, ihren Kollegen, vielleicht sogar in der Familie Menschen sind, die ein Doppelleben geführt haben und sie verraten haben. Das wollten die wissen. Auch war wichtig, wo sind denn eigentlich die Täter geblieben, die Stasi-Offiziere, die IM’s? Sollen die jetzt wieder in politische Mandate? Das hat die Debatte der ersten Jahre bestimmt. Ich habe den Eindruck, dass sich das jetzt allmählich verschiebt. Jetzt will man genauer wissen, wie hat's denn funktioniert, die Fragen nach denen, die widerstanden haben, die auch mit Witz und Schläue sich dem Zugriff der Stasi entzogen haben, als die sie anwerben wollte und so. All das sind ganz wichtige Fragen, die jetzt verstärkt gestellt werden, auch die nach den Hauptamtlichen beispielsweise. Das ist jetzt stärker im Gespräch als noch vor zehn Jahren, wo es überwiegend um die IM’s ging. Also, kurz gefasst: Es wird immer wieder neue Fragen geben. Das Interesse wird sich auf immer neue Gegenstände richten. Das ist aber normal.

Deutschlandradio Kultur: Da hat eine Forderung überrascht, die vor einiger Zeit ein früherer „Kollege“ aus der Bürgerrechtsbewegung an Sie gestellt hat. Arnold Vaatz, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Sachsen hat – kurz gesagt – die Auflösung Ihrer Behörde gefordert. Hat Sie das überrascht? Fühlen Sie sich unter Druck gesetzt?

Birthler: Ach, der Arnold, der weiß vielleicht nicht so richtig, was wir da alles machen. Vielleicht gibt es mal eine Gelegenheit, dass ich ihm das in Ruhe erläutern kann… Es ist eine Einzelmeinung. Also, er hat – denke ich – auch in seiner eigenen Partei da wenig Unterstützung in dieser Frage. Wie er auf die Idee gekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass manche Wissenschaftler meinen: Wenn die Stasi-Akten zum Bundesarchiv gehören, würden sie genauso leicht rankommen, wie sie an Überlieferungen kommen, die jetzt im Bundesarchiv lagern. Das ist aber ein Irrtum, denn die restriktiven Bedingungen, nach denen die Stasi-Unterlagen herausgegeben werden, haben ihren Grund in dem besonders sensiblen Charakter dieser Unterlagen. Gerade hat das Bundesverwaltungsgericht das auch noch mal nachdrücklich unterstrichen, dass das Archivrecht für Stasi-Unterlagen nicht zur Anwendung kommen darf.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben gerade bei der rechtlichen Grundlage, die es für die Einsicht in die Akten gibt, eine Veränderung mit dem Urteil im Falle Helmut Kohls erfahren. Danach hieß es, die Akten werden in restriktiverer Weise herausgegeben. Wie hat das die Arbeit Ihrer Behörde verändert?

Birthler: Es ist etwas komplizierter geworden. Die Restriktionen oder – sagen wir mal – Hürden sind tatsächlich etwas höher bei der Herausgabe von Akten. Es ist aber andererseits auch nicht so, wie manche befürchtet haben, dass damit jetzt die Aufarbeitung ins Stocken geraten würde. In vielen Fällen hilft es, dann die Betroffenen zu bitten ihre Einwilligung zu geben, wenn man zu bestimmten Themen forscht. Und was Mitarbeiterakten betrifft, also Akten über IM und Hauptamtliche, die sind ja von dem Urteil gar nicht berührt.

Deutschlandradio Kultur: Es stellt sich dennoch immer noch die Frage, Frau Birthler, wie es langfristig mit der Zukunft Ihrer Behörde weitergehen soll. Sie haben es eben schon kurz angedeutet. Können Sie noch einmal genauer sagen, wie Ihre Haltung zur (Übergabe,) Übernahme der Akten durch das Bundesarchiv ist?

Birthler: Wir können ja nicht in die weite Zukunft schauen, aber so einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren können wir schon überblicken und haben festgestellt, dass wahrscheinlich über diesen Zeitraum einerseits noch eher noch diese Archiv unüblichen Aufgaben eine große Rolle spielen werden – Akteneinsicht, Behördenforschung, behördeninterne Forschung usw. Auf der anderen Seite ist dann 30 Jahre nach 1990 vielleicht dann auch der Zeitpunkt gekommen, wo man noch mal drüber reden kann, ob nicht ein liberalerer Aktenzugang allmählich möglich wäre. Also, die beiden Hauptgründe, weshalb seinerzeit das Stasi-Unterlagengesetz gebildet wurde, die Archiv unüblichen Anträge und die Sensibilität der Daten. Die haben sich für einen Zeitraum von zehn bis 15 Jahren aus unserer Sicht noch nicht erledigt. Was danach kommt, weiß ich nicht. Ob ich dann dafür bin, die Akten dem Bundesarchiv zu unterstellen, hängt für mich auch von Einzelheiten dieser Regelungen ab. Zum Beispiel fände ich es nicht sehr klug, die Unterlagen, die jetzt in den Außenstellen unserer Behörde liegen, dann den Landesarchiven zu übergeben. Das würde den Bestand zerreißen. Darüber ist dann noch viel zu diskutieren, aber das werden wir wahrscheinlich so bald nicht erleben.

Deutschlandradio Kultur: Abgesehen von Forschern und wissenschaftlichen Mitarbeitern, auch Historikern, die sich mit Unterlagen beschäftigen, wie groß ist eigentlich das Interesse bei der Bevölkerung? Wie viel Schnipsel – in Anführungszeichen, wie viel Akten müssen Sie eigentlich noch aufarbeiten, um den Anforderungen, die möglicherweise noch da sind, gerecht zu werden?

Birthler: Insgesamt haben in den zurückliegenden Jahren anderthalb Millionen Menschen von dem Recht Gebrauch gemacht, einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Und das ist eine Zahl, die weit über dem liegt, was alle seinerzeit erwartet haben. Das heißt ja nicht nur, die haben selber ein paar Akten gesehen, eine gute Hälfte davon hat dann auch Akten. Sondern sie haben darüber gesprochen. Sie haben vielleicht mit Angehörigen, mit Kollegen überlegt, mach ich das überhaupt, stelle ich einen Antrag. Dann haben sie erzählt, was steht denn drin, waren vielleicht schockiert oder auch enttäuscht. Das heißt also: Anderthalb Millionen mal haben Menschen sich gegen das Schweigen entschieden. Und das ist mehr als eine Privatangelegenheit. Das ist durchaus von gesellschaftlicher Relevanz, dass hier immer wieder eine Fülle von kleinen Impulsen kommt, nach der Vergangenheit zu fragen. Das hält bis heute an. Allein im Jahr 2005 hatten wir 80.000 Anträge auf Akteneinsicht. Da ist so bald mit einem Ende nicht zu rechnen. Zur Hinterlassenschaft der Stasi-Offiziere gehörten auch 16.000 Säcke mit zerrissenen Akten, grob zerrissen, die wollten sie später noch endgültig vernichten. Die setzen wir wieder zusammen. Das haben wir bis jetzt per Hand gemacht. Aber das ist eben nur der Inhalt von 250 Säcken gewesen und 16.000 haben wir. Jetzt hat der Bundestag gerade Mittel bewilligt für ein Verfahren, das vom Fraunhofer-Institut hier in Berlin entwickelt wurde, mit dem diese Akten virtuell rekonstruiert werden können, also IT-gestützt. Das ist ein Pilotprojekt. Da geht es noch mal um 400 Säcke. Und wenn das erfolgreich ist, wird man über weitere Schritte nachdenken müssen. Und das ist deswegen interessant, weil in diesen Säcken Akten aus der allerletzten Zeit der DDR stecken und natürlich auch die Akten, von denen die Offiziere meinten, die müssen besonders schnell verschwinden. Der Anteil von sehr interessanten oder brisanten Unterlagen in diesen Säcken ist – gemessen an den anderen Beständen – relativ hoch.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben davon gesprochen, dass der Bundestag Mittel bewilligt hat. Da würde ich gerne anknüpfen und Sie fragen, Frau Birthler, wie Sie die Unterstützung durch die Politik empfinden. Gibt es da eine Veränderung? Gibt es durch vielleicht auch äußere Anlässe wie Filme, wie „Das Leben der anderen“ irgendwie einen Impuls, dass man sich auf einmal wieder stärker um Ihre Behörde kümmert? Oder spüren Sie eher Desinteresse, so das Alltagsgeschäft?

Birthler: Ich finde das beachtlich und keineswegs selbstverständlich, dass seitens des Bundestages und auch der bisherigen Bundesregierung die Arbeit nicht nur meiner Behörde, sondern auch der Stiftung Aufarbeitung immer unterstützt wurde, auch mit erheblichen Mitteln ausgestattet wurde. Das heißt nicht, dass ich immer zufrieden bin. Es gibt auch Defizite und es gibt natürlich in allen Fraktionen noch Abgeordnete, die unserer Arbeit eher distanziert gegenüberstehen. Aber im Großen und Ganzen kann man davon sprechen, dass es im politischen Raum der Bundesrepublik Deutschland Konsens ist, Menschen und Mittel dafür einzusetzen, dass die Geschichte erinnert wird und auch aufbewahrt wird. Das ist natürlich jetzt noch mal verschieden, auch zwischen Ost und West verschieden. Wir haben ja im Westen eine ganz andere Situation als im Osten dadurch, dass es da weder Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen gibt noch haben wir Außenstellen dort. Schon gar nicht gibt es da authentische Orte, an denen man begreifen könnte, was Geschichte war. Das heißt, wir müssen uns für den Westen was einfallen lassen. Denn es ist ja, wenn wir über die DDR reden, nicht nur ein Stück ostdeutscher Geschichte, es ist deutsche Geschichte. Das hat die Stasi übrigens auch so gesehen, die ja im Westen sehr aktiv war. Aber man darf auch nicht vergessen, dass Millionen Menschen in all den Jahren von Ost nach West gegangen sind, also auch viele Altbundesbürger ihre familiären Wurzeln im Osten hatten.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja die Behörde von Joachim Gauck übernommen, der sie nach der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 aufbaute, ihr seinen Namen und ein Gesicht gab und bis 2000 leitete. Damals gab es ja Zweifel daran, ob Sie die Richtige seien, ob nicht die „Gauck-Schuhe“ eine Nummer zu groß für Sie sind. Diese Befürchtungen sind rasch verstummt. Aber hat Sie das damals eigentlich gekränkt?

Birthler: Nein, weil das auch meine Befürchtung war. Ich habe ja ein gutes Verhältnis zu Joachim Gauck, wir sind auch befreundet. Ich habe das bewundert, was er gemacht hat, und hatte schon erheblichen Respekt vor diesem Amt und brauchte schon einige Ermutigung, um überhaupt Ja dazu zu sagen. Diese Entscheidung hat mir nicht an einem einzigen Tag der vergangenen Jahre leid getan. Ich mache es bestimmt anders. Man muss ja nicht diese großen Schuhe anziehen. Ich habe eigene. Und wie ich das nun mache und was ich anders mache, das müssen andere beurteilen. Dazu bin ich nicht die Richtige.

Deutschlandradio Kultur: Frau Birthler, weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit und vielen Dank für das Gespräch.

Birthler: Vielen Dank für Ihr Interesse.