Biotop Westberlin

"Das war schon alles umwerfend"

Graffitis auf der Westseite der Berliner Mauer am 29. April 1984
Hinter der Mauer sei es immer warm und kuschelig gewesen, fanden viele Westberliner © AFP / JOEL ROBINE
Moderation: Ute Welty · 08.11.2014
Die Realität habe sich mit den Wünschen der Stadt gerieben: So beschreibt der Musikjournalist Olaf Leitner die kreative Spannung im einstigen Westberlin. Bis heute schwärmt er von acht Stunden langen Stücken an der Schaubühne.
Ute Welty: Deutschlandradio Kultur mit Studio 9 am Tag vor dem 9. November. Was an diesem 9. November 1989 Großartiges passiert ist, das muss man nicht mehr großartig erzählen. Mit der Öffnung der Mauer beginnt nämlich eine neue Zeitrechnung. Es ist der Anfang vom Ende der DDR, aber es ist auch der Anfang vom Ende von Westberlin. Kulturmetropole, Kneipenparadies, Zuflucht aller Kriegsdienstverweigerer und der Kinder vom Bahnhof Zoo. Der Journalist Olaf Leitner hat darüber ein Buch geschrieben. Als gebürtiger Berliner, als einer, der im Westradio, nämlich im RIAS, Musik aus dem Osten, wie von City, gespielt hat. Guten Morgen, Herr Leitner!
Olaf Leitner: Guten Morgen!
Welty: Westberlin war die Insel im roten Meer, die Stadt ohne Hinterland, abgegrenzt und doch weltoffen. Was hat Ihnen daran gut gefallen?
Leitner: Also a) war man ja nichts anderes gewohnt. Nein, gerade dass sich da was rieb. Also da rieb sich die Realität mit den Wünschen der Stadt. Berlin war ja, Westberlin war ja da immer ein bisschen traurig, dass es doch nicht New York war, obwohl es immer mit New York verglichen wurde, was natürlich eine Unverschämtheit war –
Welty: Für New York.
Leitner: Wenn man aus New York kam, dann hatte man den Eindruck, man ist mittendrin in der Provinz. Aber sonst passierte da allerhand, gerade durch die Gegensätze.
Die wichtigen Leute waren meist keine Berliner
Welty: Wie haben Sie von dieser Spannung profitiert? Was wäre in Ihrem Leben ohne Berlin anders verlaufen? Alles.
Leitner: Das ist eine Frage! Ich glaube, alles. Denn Berlin war schon, na doch, der Mittelpunkt nicht Gesamtdeutschlands, aber zumindest Westdeutschlands. München? München ist langweilig. Hamburg hatte viel zu tun, um Geld zu verdienen, aber die Kultur spielte sich dann doch in Berlin ab, und zwar durch Leute, und das ist das Verrückte, durch Leute, die gar keine Berliner waren.
Ich habe mit den Leuten, die wichtig waren, entweder kulturell oder sonst wie, wenn ich mit denen gesprochen habe, nach dem Geburtsort gefragt, dann war das Hannover, dann war das Köln, dann war das die Provinz – es war bloß selten Berlin. Da schämte man sich richtig ein bisschen, dass die anderen das gemacht haben, was Berlin so bedeutend machte.
Welty: Warum hat Berlin diesen Zustrom von Kreativität gebraucht? Oder hat Berlin Kreativität gebraucht?
Leitner: Na, weil doch die ganze Industrie mit ihren Arbeitern, die sind doch alle weggezogen. Das einzige, was blieb, war Schering – Schering machte, glaube ich, die Antibabypille, und das ist ja das, was man in Berlin nicht brauchen konnte. Wir wollten doch Babys haben. Warum mussten die gerade mit der Babypille reüssieren? Aber da war also doch ein ganz schönes Loch, und das wurde gefüllt. Die Bundeswehr mag leben, und die hat ja uns die Jugendlichen wegnehmen wollen, aber die sind geflüchtet, kamen nach Berlin und haben gesagt, hier machen wir die große Action.
Kreuzberg forderte zu Kreativität heraus
Welty: Berlin hatte ja relativ wenig Platz zur Verfügung. Es gab nur begrenzt Raum, trotzdem konnten unendlich viele Nischen entstehen. Wie kam das zustande, dass Künstlerinitiativen, studentische Bewegungen ihren Platz fanden?
Leitner: Weil dann doch in den weniger schönen Bezirken, zum Beispiel Kreuzberg, die Wohnungen hatten Ofenheizungen überwiegend, und die Bequemlichkeit war auf halber Treppe, und wenn da besetzt war, musste man eine halbe Stunde warten. Das hatte aber auch irgendwie was Simples, was Kreativität herausforderte. Also irgendwie in einem Luxus-Appartement am Wannsee zu sitzen, war ja auch langweilig.
Und da hat man sich arrangiert, hat versucht, die Verhältnisse intern zu ändern. Und die wurden ja auch alle mit großem Brimborium empfangen, aber der Senat wusste nicht genau, wer sich da im Kreuzberger Kiez niedergelassen hat. Und eines Tages haben die dann gerufen: "Brich dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten!" Der Schütz war der Regierende Bürgermeister. Die haben sich dann doch die Tarnkappe abgerissen, als dann die politische Entwicklung auch ein bisschen anders ging.
Welty: Ach, wenn Sie die politische Entwicklung ansprechen – mehr Bedeutung hatte Westberlin ja im kulturellen Bereich, auf dem kulturellen Sektor – waren das so kommunizierende Röhren, dass auf der einen Seite die Bedeutung sank und auf der anderen Seite die Bedeutung anstieg?
Leitner: Ja, aber weil Sie gerade den Begriff kommunizierende Röhren benutzen – da hat mich eigentlich immer gewundert, dass die Genres überwiegend immer für sich blieben. Da waren die Maler, da waren die Poeten, da waren die Musiker. Und es hat irgendwie nicht so funktioniert, dass die miteinander was getan haben. Botho Strauß hat ein Stück geschrieben, da kam Rockmusik vor, also da hat er das Genre mal überschritten. Aber sonst, fand ich immer, war es eigentlich ziemlich eng. Aber sonst, natürlich herrliche acht Stunden Schaubühnen-Inszenierung. Das war schon alles umwerfend, was man da so erleben konnte.
Regietheater ohne Mätzchen
Welty: Und was war Ihr persönliches Highlight?
Leitner: Mein persönliches Highlight war auch die Schaubühne. "Der Ritt über den Bodensee", weil ich das gerade erwähnt habe, von Botho Strauß (sic!) – weiß ich auch nicht, warum mich dieses Stück so fasziniert hat. Auch das Bühnenbild, also – fand ich irre, fand ich absolut irre. Weil die nicht Regietheater in dem Sinne von Mätzchen gemacht haben, sondern sie haben die Schauspieler kommen lassen, und sie haben den Text geatmet, und das war irgendwie – ach! wunderbar.
Welty: In den Jahren vor der Maueröffnung wollen nicht wenige Beobachter eine Verflachung der Szene festgestellt haben. Kam der 9. November 1989 auch für Westberlin zur rechten Zeit?
Leitner: Man sagt so. Aber alle, die das sagen, die haben einen ganz kleinen Umstand übersehen, nämlich war es '84, '85, als die Privatmedien eröffnet wurden. Und da hat sich verdammt viel geändert in Berlin. Zum Beispiel auch der Sender, bei dem ich war, der wurde dann geteilt. Ein Teil wurde dann weggerissen, wurde privat. Also das hatte schon eine Bedeutung, und das hat dann schon darüber hinweggetäuscht, dass vielleicht doch kulturell alles so ein bisschen langweiliger wurde.
Der Mauerfall: als ob du Oma die Rheumadecke wegnimmst
Welty: Sie haben ja bereits 2002 über Westberlin geschrieben, was ja eine recht frühe Bilanz war. Wie fällt Ihr Urteil 2014 aus? Verändert sich der Blick noch mal?
Leitner: Ich habe mich ja amüsiert, als die Mauer fiel. Das war so, als ob du Oma die Rheumadecke wegnimmst. Das war immer so warm und kuschelig in dieser Mauer. Und nun plötzlich kamen da Autos, die hatten merkwürdige Kennzeichen. Die hatten nicht B-soundso, sondern KA und S und alles Mögliche, und – was wollten die eigentlich in dieser Stadt? Also, Westberlin musste sich die Augen wischen und ganz schön überlegen, wie können wir uns mit dem neuen Zustand arrangieren. Und ich finde, es hat sich eigentlich gut arrangiert. Zwar doch – man hat eine Zeit lang gebraucht, aber wenn man jetzt in die Stadt kommt, dann wäre vielleicht ein Vergleich mit New York schon ein bisschen akzeptabel.
Welty: Was ist inzwischen über Westberlin in Vergessenheit geraten, von dem Sie aber sagen, das ist doch ganz wichtig?
Leitner: Das sind alles nur negative Sachen, glaube ich. Also für mich – ich vermisse in der U-Bahn Sprüche wie "Herr Meyer, na wie geht's? Recht gut, ich esse Pechbrot stets!". Oder so: "KJ-gekleidet, flott gekleidet". Es gab damals schon eine Form von Werbung, die so rührend naiv war, dass man dann doch schmunzeln musste. Aber etwas, was überhaupt nichts mit Wirtschaft zu tun hat: Was ich vermissen würde, das sind die synagogalen Gesänge des Oberkantors Estrongo Nachama freitags gegen 18 Uhr auf dem RIAS. Er sang zwar nicht nur für Ost, auch für Westberlin für die jüdische Gemeinde und für uns alle, und plötzlich hat sich diese Stadt verändert. Da war was in der Luft, was eine ganz andere Atmosphäre erzeugt hat. Und mitten in dieser hektischen Großstadt war dann irgendwie der Gegenpol. So albern es klingt, aber das würde ich vermissen. So was in der Art.
Welty: Der Journalist Olaf Leitner über sein Westberlin. Und dieses Lebensgefühl, das können Sie auch nachspüren ab dem 13. November, denn dann eröffnet im Ephraim-Palais in Berlin die Ausstellung über Westberlin. Herr Leitner, herzlichen Dank!
Leitner: Bitte gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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