Biotop des Gottvertrauens

Von Adolf Stock · 07.09.2013
Die Kanzlerin, der Bundespräsident, die Grünen-Spitzenkandidatin: Sie alle nennen ein evangelisches Pfarrhaus ihre Heimat - ein Stück kirchlicher Tradition. Was dieses Pfarrhaus so besonders macht, damit hat sich die Autorin Christine Eichel beschäftigt.
"Was möchte die deutsche Seele eigentlich an der Spitze des Staates sehen?"

Gute Frage. Zweifellos möchte die deutsche Seele integere Politiker, die aufrecht sind und selbstlos ihrem Land dienen. Und da, sagt Buchautorin Christine Eichel, sind protestantische Pfarrer und Pfarrerskinder fraglos erste Wahl.

"Herr Gauck ist ehemaliger Pfarrer, Frau Merkel ist Pfarrerstochter, Katrin Göring-Eckhardt ist eine der Spitzenkandidaten der Grünen: Sie ist Pfarrfrau und Theologin und Präses der EKD, also da haben wir schon mal so einen Pool von Menschen, die aber noch einmal durch die Ostvergangenheit im Grunde ein Plus haben, zusätzlich zur protestantischen Kultur, die sowieso kompatibel zum Politischen ist, denn da sind Menschen natürlich aufgewachsen, die gewissermaßen so eine Festigkeit haben, auch eine Unerschrockenheit und eine ganz, ganz hohe Glaubwürdigkeit."

Mit Christine Eichel lässt sich verstehen, warum das so ist, denn sie hat eine anregende Kulturgeschichte geschrieben, die dem deutschen Pfarrhaus gewidmet ist.

Martin Luther hatte eine geflüchtete Nonne geheiratet und in Wittenberg einen Hausstand gegründet. Es war das erste protestantische Pfarrhaus, das in Folge zu einem leuchtenden Vorbild wurde.

"Es war ein gläsernes Haus, ein öffentliches Haus. Das heißt, das klassische Pfarrhaus wurde auch so gebaut, dass Gemeinderäume und Privaträume unter einem Dach waren. Oft fand auch die Kirchenchorprobe im Wohnzimmer statt oder auch der Konfirmandenunterricht, so dass die Pfarrersfamilie auch immer unter Beobachtung war. Der Pfarrer sollte halt nicht nur Lippenbekenntnisse auf der Kirchenkanzel absondern, sondern er sollte wirklich vorleben, was er glaubte."

Der Glaube sollte auch alltagstauglich sein. Christine Eichel erzählt, wie das deutsche Pfarrhaus zu einem Biotop des Gottvertrauens wurde, das im Geist der Bergpredigt allen Hilfsbedürftigen offen steht.

"Ich erinnere mich gut, dass ich in meiner Kindheit oft mit Landstreichern und Obdachlosen zusammen gefrühstückt habe. Tippelbrüder nannten wir die. Die bekamen immer ein Butterbrot und eine Tasse Kaffee, Geld bekamen sie nie, aber man ließ sie ins Haus. Also Nächstenliebe musste sich auch auf völlig Fremde beziehen, man war einfach offen. Es galt die Unschuldsvermutung."

Christine Eichel ist selbst in einem Pfarrhaus groß geworden, das hatte für sie und ihre Geschwister Vor- und Nachteile.

"Pfarrerskinder, eben weil sie in der Kirche Orgel und Flöte spielen, weil sie auf Altennachmittagen Kaffee eingießen und für Basare basteln, sind mit dem Gefühl aufgewachsen, dass sie gebraucht werden, dass sie Teil eines sinnvollen Zusammenhangs sind. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass man vielleicht als Pfarrerskind dann auch das Gefühl hat, ich bin ein Außenseiter. Ich musste auch noch darum kämpfen, eine Jeans zu tragen. Meine ältere Schwester durfte nur Faltenröcke tragen und hat darunter fürchterlich gelitten, oder man durfte in der stillen Woche vor Ostern nicht auf Partys gehen. Friedrich Dürrenmatt zum Beispiel, Pfarrerssohn, berichtet, dass er von der Dorfjugend regelmäßig verprügelt wurde, einfach nur weil er Pfarrerssohn war, weil er anders war, er sprach anders, er war anders angezogen, er passte nicht recht dazu."

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das bürgerliche Pfarrhaus zu einer Talentschmiede für Dichter, Philosophen und Wissenschaftler wurde. Der Zoologe Alfred Brehm, der Archäologe Heinrich Schliemann, der Philosoph Friedrich Nietzsche oder Albert Schweitzer, sie alle waren Pfarrhauskinder.

Doch es gab auch viel Leid hinter der Pfarrhaustür. "Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie." Im Buch wird das Sprichwort gleich zweimal zitiert. Wenn die Erziehung im Pfarrhaus schief geht, dann geht´s meist gründlich schief.

Mit dem Aufkommen des Pietismus hatte sich die Wahrnehmung des Glaubens auf die Schuldfrage verschoben. Ein permanent schlechtes Gewissen bestimmte nun den Glauben. Die fatalen Auswirkungen haben eine Tradition, die Tilmann Moser in seinem Buch "Gottesvergiftung" beschrieben hat. Ein Beispiel ist Gudrun Ensslin, die aus falsch verstandener Moral zur Terroristin wurde.

"Die evangelische Beichte entlässt einen mit seinen Zweifeln, mit seinen Details, auch mit seinen Verfehlungen sehr stark direkt im Gegenüber zu Gott. Das heißt, Schuldgefühle sind viel, viel stärker ausgeprägt. Und dieser moralische Anspruch hat sich dann unmerklich auf viele andere Lebensbereiche bezogen."

Politisch hielt sich der Protestantismus eher zurück, die weltlichen Machthaber wurden ohne viel Wenn und Aber vom Klerus akzeptiert.

"Luther hat im Grunde die Weichen gestellt. Zum einen, indem er selber aktiv kooperierte mit den Landesherren, da war gleich so eine gewisse Allianz von Thron und Altar, die sich dann wirklich stabilisiert hat und auch noch bis zur Weimarer Republik fast angehalten hat. Das war schon strukturell so, dass sich Luther immer auch selber konform zur Obrigkeit verhalten hat, was dazu führte, dass irgendwann die Pfarrer Staatsbeamte wurden. Da gab es eine Allianz, die natürlich auch Loyalität verlangte."

Theoretisch hat dies Luther mit der "Zwei-Reiche-Lehre" begründet. Danach ist das Reich Gottes nicht von dieser Welt.

"Auf Erden aber, sagt er, gilt die Obrigkeit als Autorität, das heißt, man darf sich auch als Pfarrer und überhaupt als Christ nicht gegen die Obrigkeit auflehnen, das unterscheidet ihn ja auch zum Beispiel von Thomas Müntzer, seinem ehemaligen Mitstreiter, der dann in den Bauernaufständen eine Zentralfigur wurde und natürlich auch ein heftiger Kontrahent von Luther selber."

Nationalstolz und Antisemitismus fanden im Protestantismus ihren Platz. Der eigentliche Sündenfall war dann das Dritte Reich. In der Organisation "Deutsche Christen" tummelten sich die Sympathisanten der Nationalsozialisten.

"Das war fatal. Viele haben auch geschwiegen, waren in der inneren Emigration, aber selbst die Bekennende Kirche war eher gegründet worden, um die Selbstständigkeit der evangelischen Kirche aufrechtzuerhalten, sich nicht gleichschalten zu lassen. Es war nicht gleich¬bedeutend mit Widerstand."

Das ist einer der Gründe, weshalb das Pfarrhaus in der DDR so politisch werden konnte. Nach dem Dritten Reich gab es keine Entschuldigung mehr: Luthers "Zwei-Reiche-Lehre" hatte ausgedient. Für Opportunis¬mus und Mitläufertum gab es keine moralische Rechtfertigung mehr.

"Das ist ein ziemlich einmaliger historischer Lernprozess, dass da eine Institution wie das Pfarrhaus die Konsequenzen gezogen hat aus einer historischen Verfehlung."

Hier schließt sich der Kreis. Die geläuterten Protestanten sind politikfähig geworden, und sie treffen den Zeitgeist. Neben den vermeintlichen Märchenprinzen wie Karl-Theodor zu Guttenberg oder Christian Wulff sind die Protestanten politisch erfolgreich, weil sie für christliche Werte einstehen, die dem Gemeinwohl dienen.

"In der Bibel ist zum Beispiel das Armutsgebot durch Jesus sehr, sehr stark präsent. Er hat auch gesagt: Verschenkt euer Hab und Gut! Die materiellen Güter haben keinen hohen Stellenwert. Und im Protestantismus geht es dann so weit, dass eigentlich Kategorien wie Bescheidenheit, Demut und Verzicht auf Prachtentfaltung wesentlich zum Selbst¬verständnis dazugehören. Mit anderen Worten: Ein Pfarrer mit der Rolex wäre undenkbar."