Biografien der Herrnhuter

Berichte vom Leben mit Gott

Zeitgenössische Darstellung des Pietisten und Begründers der Herrnhuter Brüdergemeine: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.
Zeitgenössische Darstellung des Pietisten und Begründers der Herrnhuter Brüdergemeine: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. © dpa / Bertelsmann Lexikon Verlag
Von Anna Seibt · 22.04.2018
Jedes Mitglied der Herrnhuter Brüdergemeine muss einen Lebenslauf niederschreiben - da geht es nicht etwa um die Karriere, sondern um das Leben mit Gott. Stirbt ein Gemeindeglied, wird bei der Beerdigung dessen Lebenslauf vorgelesen. Diese Tradition stammt aus dem 18. Jahrhundert.
"Also, das hier zum Beispiel: Anna Böhnisch, geborene Fiedler, 1705 bis 1779. Geboren in Zauchtental. Fromme Eltern. Also, da sehen Sie jetzt schon, wie das geschrieben ist, dass sie das nicht selber geschrieben hat."
Stefan Butt sitzt in einer winzigen Einzimmerwohnung in Berlin-Neukölln. Um ihn herum Regale voller Bücher. Auf dem Tisch ein Stapel Aktenordner und Mappen aus buntem Karton. Butt ist der Hüter des "Archiv im Böhmischen Dorf". Hier befinden sich wertvolle Schriften der Herrnhuter Brüdergemeine. "Ein alter Mann sagte öfters zu ihr, wenn sie dem Herrn Jesu ihr Herz gäbe, so würde er sie noch eine Gemeine Gottes sehen lassen. Und das ist auch, sagte sie nachher, an mir erfüllet worden."
1737 flüchteten verfolgte Mitglieder der "Böhmischen Brüder", einer reformatorischen Kirche, aus der heutigen Republik Tschechien nach Preußen. Hier nannten sie sich "Herrnhuter", nach dem von ihren Glaubensgeschwistern in der Lausitz gegründeten Ort Herrnhut. Unter dem Schutz von König Friedrich-Wilhelm I. bezogen sie Häuser in Rixdorf, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Berlin. Heute ist das Böhmische Dorf ein Teil des Berliner Bezirks Neukölln.*
"'Ich habe die Brüdergemeinde seit ihrem Anfang gesehen und viel Seliges darin genossen. Wofür ich dem Heiland noch in der Ewigkeit danken werde.' Also, Gemeinschaft und Gott. Das ist das Zentrale."
Die Lebensläufe der Gemeindemitglieder sind ein wichtiger Teil des Archivs. Es sind Schriften, die über das Leben der Herrnhuter mit Gott berichten. "So ein Lebenslauf besteht meistens aus zwei Teilen. Ein Teil ist der selbstgeschriebene Teil und wenn der dann so kurz ist wie jetzt dieser hier, dann wird eben noch ein Teil angefügt, den dann entweder Angehörige geschrieben haben oder der Prediger selber geschrieben hat."

Andenken an den Verstorbenen und Erbauung der Hinterbliebenen

Nach dem Tod eines Gemeindemitglieds verliest der Pfarrer bei der Trauerfeier den jeweiligen Lebenslauf. Eine Tradition, die bis heute Bestand hat. Das dient zum Andenken an den Verstorbenen. Aber auch zur Erbauung der Hinterbliebenen. "Und die Erbauung, also das, was die anderen dann erfreut oder woran sich die Gemeinde dann stärken kann, das waren eigentlich gerade die Irrwege im Leben. Also, die vielen Dinge, die im Leben eben nicht glatt gelaufen sind. Und dann das Erleben als gläubiger Mensch: Gott hat ein großes Herz für Sünder, also Gott steht ihm trotzdem bei."
Das Böhmische Dorf mit der alten Schmiede und dem Kopfsteinpflaster wirkt wie ein Freiluftmuseum innerhalb des wuseligen, lauten, modernen Neukölln. Noch immer wohnen hier Nachfahren der böhmischen Flüchtlinge. Brigitta Polinna ist eine von ihnen. Ihre Familie lebt schon seit sieben Generationen in dem kleinen Bauernhaus mit den dunkelgrünen Fensterläden. Von ihrem Wintergarten aus kann sie das Gemeindehaus der Herrnhuter sehen. Die pensionierte Sozialpädagogin hat schon vor zwanzig Jahren begonnen, ihren Lebenslauf aufzuschreiben.
Herrnhuter Brüdergemeine Berlin-Neukölln mit einer Danksagung an Berlin an der Wand.
Herrnhuter Brüdergemeine Berlin-Neukölln mit einer Danksagung an Berlin an der Wand. © Imago / Rolf Zöllner
"Wer meine Eltern waren, wo sie herkamen, was sie für einen Hintergrund hatten. Dass mein Vater auch hier bei der Brüdergemeine im Kindergottesdienst war und in der Spielschule… also, solche Sachen hab ich dann schon jetzt aufgeschrieben. Aber es geht natürlich hin zu mir. Zu meiner Geburt und meinen Leben hier in der Brüdergemeine."

Glauben spielt in den Lebensläufen heute kaum eine Rolle

Für sie sind die Lebensläufe ein Stück Familiengeschichte. Sie sagt, sie könne ein ganzes Buch mit ihrem Leben füllen. Was dann auf ihrer Trauerfeier vorgelesen wird, das soll ihre Tochter bestimmen. Der Glaube, das hat Brigitta Polinna beobachtet, spielt in den Lebensläufen von heute kaum noch eine Rolle. Dafür erfahren die Gemeindemitglieder oft viel Persönliches.
"Ich will nicht übertreiben, aber ich war bestimmt auf 50 Beerdigungen. Da hört man mitunter Dinge von Leuten, das hat man denen überhaupt nicht zugetraut. Dinge, die das Leben in irgendeiner Form geformt haben. Scheidungen, Kriegswirren oder wie tapfer sie sich manchmal aus solchen schwierigen Situationen hinüber gerettet haben. Also, da würde ich schon denken, dass diese Aspekte eines Lebenslaufes eigentlich sehr interessant sind, weil man den Menschen auf eine ganz andere Weise manchmal auch sieht."
Heute verfasst jeder seinen Lebenslauf frei von der Leber weg, sagt Archivar Stefan Butt. Früher hingegen wussten die Menschen ganz genau, welche Sätze in ihrem Lebenslauf nicht fehlen durften.
"Einem Dorfbewohner hier, der auch böhmische Wurzeln hat, dem hab ich mal seinen Stammbaum geschenkt und auch frühe Lebensläufe seiner Familie. Und dann sagt er: Mensch, Herr Butt… die waren ja alle so furchtbar fromm. Da hab ich gesagt, ich glaub das nicht, dass Ihre Familie so furchtbar fromm war, weil, das war die erste Familie, die ne Kneipe hatte hier im Ort. Das spricht nicht dafür, dass die die Frommsten waren. Ja, aber da steht doch drin: 'Ich hab' gesündigt und ich bin vom Weg abgekommen und dann hat Gott doch Erbarmen mit mir gehabt.' Und dann sag ich: 'Das steht in jedem Lebenslauf'."

Butt ist der Bewahrer der Tradition

Stefan Butt selbst gehört erst seit 2017 zu den Herrnhutern. Er sei zwar nicht besonders gläubig, durch die Beschäftigung mit dem Archiv sei er aber in die Gemeine hineingewachsen. Butt hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Tradition der Lebensläufe zu bewahren. Er organisiert Informationsveranstaltungen und animiert die Gemeindemitglieder dazu, ihre eigenen Erfahrungen aufzuschreiben. Er weiß aber auch:
"Wenn man sich dann mal tatsächlich an den Computer setzt und sagt, so ich schreib jetzt mal mein Leben, dann merkt man, dass das nicht einfach ist. Dann zu überlegen, was ist denn jetzt eigentlich wichtig? Was ist für mich wichtig? Was ist für die Leute wichtig, die dann nachher diesen Lebenslauf hören, wenn ich mal nicht mehr bin?"
Und seinen eigenen Lebenslauf? Den muss er erst noch schreiben…
* Die ursprüngliche Onlineversion des Berichts wurde korrigiert, weil der Name Herrnhuter erst in Berlin gebräuchlich wurde.
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