Biografie

Heiliges Supermonster

Von Gabriela Jaskulla · 26.11.2013
31 Werke gibt es bereits, die sich mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt beschäftigen. Ein weiteres hat der Journalist Torsten Körner vorgelegt. Seine subjektive Recherchereise in Brandts politisches und persönliches Umfeld liefert originelle, ungewohnte Einsichten.
Früher adressierte man Briefe dieserart: "An Familie ... " – und dann folgte der Vorname des männlichen Familienoberhauptes. "Die Familie Willy Brandt" ist also zunächst ein befremdlich altmodischer Titel für eine Biografie, die sich ausgesprochen modern – als persönlich gefärbte, subjektive Recherchereise - zu Willy Brandt präsentiert.
Torsten Körner ist ein Biograf, der bereits Lebensbeschreibungen von Heinz Rühmann, Franz Beckenbauer und ein glänzendes Buch über Götz George vorgelegt hat. Das bedeutet, dass hier kein ausgewiesener politischer Publizist (wie Klaus Harpprecht, Hans-Georg Noack u.a. ), kein politisch profilierter Kopf (wie Egon Bahr), kein Historiker (wie Gregor Schöllgen) arbeitet, sondern ein vorgeblich "nur neugieriger" Autor, der den öffentlichen Brandt als emotional bestimmten Politiker sieht, als einen "Fachmann der Hoffnungen, nicht der Tatsachen", privat als "Trumm", als "heiliges Supermonster".
Das ist schön respektlos – und riskant, denn dem Autor Körner fehlt es ja nicht nur am Forscher-Fachwissen – er muss sich auch die Nähe zur Familie Brandt erst erarbeiten. Und das, obwohl gleich zwei Söhne Willy Brandts selbst über ihren Vater geschrieben haben: Lars Brandt veröffentlichte 2006 den Roman "Andenken". Vom ältesten Sohn, Peter Brandt, ist in diesen Tagen im Dietz-Verlag der Essay "Mit anderen Augen" erschienen.
"Das Orakel von Bergedorf" war wortkarg
Torsten Körner jedoch will beides: den intimen Blick ins Wohnzimmer und den Überblick des Essayisten. Man folgt dem Autor zunächst gern bei seiner abenteuerlichen Reise, denn die 30 kurzen Kapitel sind geradezu spannend und flüssig geschrieben. Körner verzichtet fast völlig auf Chronologie. In munteren Rösselsprüngen geht es von den Gräbern der Brandts über die Kindheit von Willy Brandt zur Jugend der Söhne, zur Herkunft von Rut und Willy Brandt, zur Bundesrepublik der 1960er-Jahre, zum linken Umfeld der Brandt-Söhne, zur Berlin-Thematik und so weiter und so fort.
Körner assoziiert, er lässt sich von Eindrücken leiten, die er bei Gesprächen mit den Familienmitgliedern gewinnt. Das sind - neben den drei Söhnen Peter, Lars und Matthias Brandt - auch die Tochter Ninja Frahm aus erster Ehe sowie Freunde und Weggefährten.
Klar, dass auch Brandts Redenschreiber Klaus Harpprecht und der Architekt von Brandts Ostpolitik, Egon Bahr, zu Wort kommen. Aber hier zeigt das Buch auch seine verletzliche Flanke: Körners psychologisch geübter Biografenblick kann profundes politisches Verständnis nicht ersetzen. Kein Wunder, dass das Interview mit Altkanzler Schmidt gründlich schiefging: "Das Orakel von Bergedorf" schätzte den Journalisten Körner ganz offensichtlich als "Leichtmatrosen" ein und war entsprechend wortkarg.
Körner ist eitel oder aufrichtig genug, die Leser an diesen Recherchereisen teilhaben zu lassen. Das ist manchmal aufschlussreich, oft aber einfach überflüssig: Dass Körner "Bammel" hatte vor Schmidt – geschenkt. Dass er bei irgendeinem SPD-Gedenken für Brandt eine Rose für das Grab von Rut Brandt erbettelt – müssen wir nicht wissen. Und ein veröffentlichter SMS-Wechsel mit Matthias Brandt, dem Schauspieler, bringt nichts als ein wenig typografische Abwechslung in das 500-Seiten-Buch.
Als erste Annäherung an Willy Brandt hervorragend geeignet
Mit anderen Worten: Hier fehlte ein unbarmherzig-barmherziges Lektorat. Die vielen Schlacken erschweren den Blick auf durchaus originelle, ungewohnte Einsichten, die der Autor Körner bereithält. So analysiert er überzeugend die Redekunst Brandts, die das Stockende, Zaudernde zur rhetorischen Stärke machte. Er beschreibt Brandt buchstäblich als "Figur", der sichtbar, spürbar an den Rissen in der deutschen Gesellschaft litt - und gerade deshalb zur vielfältigen Identifikationsfigur wurde. Plausibel und berührend schildert Körner Brandts zunehmende "Versteinerung": als eine Mischung aus zu viel politischer Last und zu wenig Vermögen, sich privat zu öffnen.
Körner hat sein Buch weder hochstaplerisch als "die" Biografie bezeichnet, noch kommt überhaupt ein Gattungsbegriff vor. Und das ist auch gut so: Als erste Annäherung an Willy Brandt und seine Zeit ist dieses Buch hervorragend geeignet, für jüngere Leser zumal, denen die Welt Brandts fremd ist. Als solide Lebens- oder Zeitchronik taugt es nicht.

Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt
S. Fischer, Frankfurt/Main, 2013
510 Seiten, 22,99 Euro

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