Biografie

Der Entkrampfer

Theodor Heuss winkt aus einem Zug.
Am Ende seiner Zeit als Präsident: Theodor Heuss, 1959. © picture alliance / dpa / Kurt Rohwedder
Von Klaus Pokatzky · 12.12.2013
Heute vor 50 Jahren starb Theodor Heuss, der erste Bundespräsident. Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau beschreibt den liberalen Schwaben als lebenslustigen Bildungsbürger, lässt aber atmosphärische Verdichtung vermissen.
"Kronprinze müesset warte könne." Das hat dem jungen Theodor Heuss 1919 Friedrich von Payer gesagt, einer der Großen in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) damals und zuvor Vizekanzler des wilhelminischen Kaiserreiches. Der Kronprinz musste drei Jahrzehnte warten – dann war er von 1949 bis 1959 der erste Bundespräsident der Bundesrepublik. Das Warten und die Gelassenheit lagen im schwäbischen Blut dieses Mannes, "dem die besten Gedanken bei Wein und Zigarren zuflogen", mit dem "Charisma des gelassenen Humors", dem "Selbstbewusstsein im Understatement", wie sein Biograph Joachim Radkau schreibt – oder, wie Theodor Heuss selber geschrieben hat: "Wenn in der Welt kein Humor mehr vorhanden ist, dann lohnt sich die Welt nicht mehr."
Das passt zum Image des "Papa" Heuss, der das "Papa-Gerede" als "unausstehlich" und als "Verkitschung meiner Person" empfand – und der doch genau mit diesem Nimbus wohl das Beste war, was den Deutschen im Westen damals als Staatsoberhaupt überkommen konnte: der leutselige Gegenentwurf zu dem pessimistischen Machtpolitiker Konrad Adenauer, für den die Lage stets noch nie so ernst war. "Mein 'Programm' ist in einem Wort zusammengefasst", sagte er als frisch gekürter Bundespräsident bei einem Empfang, "und das heißt 'Entkrampfung'."
Entkrampfung hieß in seinen Reden den Wirtschaftswunder-Bundesbürgern lächelnd Mut machen. Entkrampfung hieß bei Staatsbesuchen in der Welt den lockeren Bildungsbürger mit Zigarre geben, der so gar nichts Furcht einflößend Preußisch-Militaristisches hatte. Und Entkrampfung hieß die unentwegte Lieferung von Papa-Heuss-Anekdoten, der die unzähligen Bürgerbriefe an ihn tatsächlich noch persönlich beantwortete. "Warum wird unser Theodor / in letzter Zeit so dick?", fragte sich der Heidelberger Schauspieler Arno Kießling und schickte das Gedicht an das Bundespräsidialamt. "Was Arno sieht, seh’n andere auch / schon rundet sich ein Bürgerbauch", reimte Theodor Heuss zurück: "was meistens leichten Beifall findet, / weil manche Sorg mit ihm entschwindet."
Er konnte aber auch ganz anders. Derselbe Bundespräsident, der im Bundeswehr-Herbstmanöver 1958 (als der Kalte Krieg mal wieder zu einem heißen zu werden drohte) den Soldaten zurief: "Nun siegt mal schön!" – stellte sich bei den Grundgesetz-Beratungen im Parlamentarischen Rat stur gegen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung: "Die allgemeine Wehrpflicht ist das legitime Kind der Demokratie." Und der Mann, der als DDP-Abgeordneter im Deutschen Reichstag 1933 Hitlers Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte, stellte sich zum zehnten Jahrestag hinter die Verschwörer des 20. Juli 1944, die damals gerne noch als Verräter gesehen wurden, und bezeichnete in seiner Rede im Berliner Bendlerblock am 20. Juli 1954 "ihr Opfer als ein Geschenk an die deutsche Zukunft". "Ich wusste schon damals, dass ich dieses 'Ja' nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen könne", schrieb er zum Ermächtigungsgesetz im Jahr seines Todes, 1963, an seine Freundin und späte Lebensgefährtin Toni Stolper, eine in die USA emigrierte Jüdin.
Extrem fleißiger Briefeschreiber
Diesen Briefwechsel hat Joachim Radkau besonders intensiv ausgewertet – mit bislang unbekannten Facetten. Analytisch, und gelegentlich auch mit kritischen Untertönen, wird der "Erfinder der ‚Bundesrepublik Deutschland" beschrieben – mit einer beeindruckenden Zusammenstellung von Heuss-Zitaten: von den Zeiten des jungen Journalisten, der schon im Kaiserreich für liberale Blätter schrieb und sich im Hitler-Reich mit dem Verfassen von historischen Essays über Wasser hielt; bis zum Alt-Bundespräsidenten, der bis zum Ende ein extrem fleißiger Briefeschreiber blieb. Leider bleibt das alles auch weitgehend papieren, trocken, dröge. Das Papier wird nicht zum Leben erweckt; der Leser nicht in die Zeiten des Theodor Heuss hineingezogen, geschweige denn hineingesogen.
So wie beim "runden Bekenntnis zum 'Allotria'" dieses großen Lebensliebenden, der als junger Mann zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in München studierte und die Nächte in der Schwabinger Bohème genoss, als "ein Bohemien, der Chansons dichten müsste" – das schreit doch danach, mal aus den zahllosen literarischen Zeugnissen der damaligen Münchner Literaten- und Künstlerszene zu zitieren. Doch solch atmosphärische Verdichtung ist die Sache von Joachim Radkau nicht. Den Wein von Theodor Heuss schmecken wir nicht, seine Zigarre bleibt kalt.

Joachim Radkau: Theodor Heuss
Hanser Verlag, München 2013
512 Seiten, 27,90 Euro

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