Bildungsweg ins Abseits

Hauptschüler landen oft in einem Teufelskreis aus Demütigung, Verachtung und Ausgrenzung. Der Kulturwissenschaftler Stefan Wellgraf hat Berliner Hauptschüler zwei Jahre lang beobachtet und schildert typische Unterrichtssituationen, aber auch die Ausweglosigkeit der Jugendlichen.
Zehn Jahre lang entließ eine Berliner Hauptschule keinen einzigen ihrer Schüler mit einem Ausbildungsvertrag ins Leben: Stefan Wellgraf, ein Kulturwissenschaftler und Stadt-Ethnograf, fragt in seiner Langzeitstudie "Hauptschüler – Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung" nach, welche Gemengelage an Frustrationen, Zukunftsängsten und Demütigungen hinter solch einer desaströsen Schulstatistik verborgen liegt.

Die Ausgangslage: Seit den Medienkampagnen um die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln und Thilo Sarrazins Angstbeschwörung einer neuen, vorwiegend muslimisch geprägten "Unterschicht" sind Schülergewalt und Bildungsresistenz zu Reizthemen avanciert – immerhin mit bildungspolitischer Sprengkraft. 2010 wurden die Hauptschulen in Berlin abgeschafft und mit den Realschulen zusammengeführt. Noch gilt der Hauptschulabschluss in sechs Bundesländern - ein Bildungsweg mit schlechtem Ruf und minimalen Perspektiven, im Ranking der Schultypen ganz unten und meist der Auftakt zur Endlosschleife aus Weiterbildungsmaßnahmen und Hartz-IV-Abhängigkeit.

Gegen schnelle Thesen und probate Vorurteile setzt Stefan Wellgrafs ethnografischer Blick auf die teilnehmende Beobachtung. In den Berliner Bezirken Neukölln, Lichtenberg und Wedding forschte er in den Abschlussklassen dreier Hauptschulen und begleitete seine Probanden auch danach in die Wirklichkeit sozialer Ausgrenzung, den Abschied von bescheidenen Träumen nach Festanstellung, sozialer Sicherheit und allmählichem Aufstieg.
Das Buch will kein dramatischer Abgesang auf die Kompetenz der Pädagogen, keine spektakuläre Milieuzeichnung, Kriminalstatistik oder islamkritische Polemik sein. Es schildert auf Grundlage von Beobachtungen und Interviews, wie wenig die schwierigen Lebensbedingungen der Jugendlichen in der Schule aufgefangen werden. Abwertung und Nichtanerkennung beschreibt es, leider stellenweise mit einer schwergängigen Begrifflichkeit, als einen gesellschaftlichen Mechanismus, der den permanenten Druck zur Selbstoptimierung in die Schule trägt.

Verachtung, resümiert der Autor, ist zum Merkmal einer Klassengesellschaft neuen Typs geworden, in der die Ausgegrenzten keine Sprache für ihre Situation besitzen, ihr verletztes Selbstwertgefühl jedoch mit einem das "Anderssein" betonenden Style und Habitus zu retten versuchen.

Stefan Wellgraf schildert typische Unterrichtssituationen, frustrierte Lehrerkommentare und renitente, bisweilen gewitzte Störmanöver der jungen Machos. Jungen und Mädchen berichten über die getrennten Welten der Geschlechter. Ein Hauptschulabschluss ist nichts wert, die Ochsentour der Bewerbungen sowieso vergeblich, signalisieren die Lehrerinnen und Sozialarbeiter, selbst wenn sie vermeintlich helfen wollen.

Nichtanerkennung und Demütigung sind in der Schulroutine, den Bildungsstrukturen, vor allem den Auswahlkriterien der neoliberalen Wirtschaft tief verwurzelt. Über das Ende des Schultyps Hauptschule hinaus stellt Stefan Wellgrafs Studie die Frage, wie eine Kultur der Anerkennung zu erreichen ist.

Besprochen von Claudia Lenssen

Stefan Wellgraf: Hauptschüler - Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung
transcript Verlag, Bielefeld 2012
334 Seiten, 24,80 Euro