Bildungsillusionen

Von Wolfgang Sofsky · 26.05.2008
Der Glaube an die Heilkraft der Bildung gehört seit je zu den Grundpfeilern der deutschen Ideologie. In einem verträumten Land, das am liebsten seine Grenzen abdichten und gleichzeitig die ganze Welt umschlingen möchte, soll es im Notfall immer die Bildung richten. Jedes soziale oder persönliche Problem hält man hierzulande zuerst für eine Erziehungsfrage.
Unüberschaubar sind mittlerweile die Aufträge. Bildung soll die Arbeitslosigkeit eindämmen und widerspenstige Ausländer in die nationale "Gemeinschaft" integrieren. Der Schule ist es aufgegeben, das Elend in den Elternhäusern auszugleichen und die gesellschaftlichen Klassenschranken aufzuheben. Jugendliche Gewalttäter will man Mores lehren und notorische Medienjunkies für die schöne, alte Wirklichkeit begeistern. Künftigen Verkehrssündern soll frühzeitig die Raserei, Fettsüchtigen die Völlerei und jungen Trinkern die Lust am Besäufnis abgewöhnt werden. Als loyale Staatsbürger und tüchtige Wirtschaftssubjekte sollen die Absolventen die Bildungsstätten verlassen, als rechtschaffene Zeitgenossen und als verlässliche Experten in ihrem Beruf.

Doch damit nicht genug. Lebenslang hat der moderne Untertan zu lernen. Die Gesellschaft als Erziehungsanstalt und das Leben als Bildungsprozess, das ist der Wunschtraum einer pädagogischen Politik, welche sich als Hüter der Sittlichkeit und Gerechtigkeit, der Effizienz und Exzellenz aufspielt. Von der Wiege bis zur Bahre möchte sie die Zöglinge auf die Schulbank drücken. Für jede Misshelligkeit steht ein Hort der Belehrung, Umerziehung und Nachschulung bereit. Bis zuletzt hat sich das unfertige Gattungswesen zu verbessern, und ist es nicht willig, so braucht es Pflicht und Disziplin. Als ob Zwang jemals zum Lernen angespornt hätte.

Einst war es das Ziel der Pädagogik, sich selbst überflüssig zu machen. Sie wollte den Menschen dazu befähigen, sein Leben auf die ihm eigene Weise zu führen. Doch dann schraubte man die Ideale hoch. Zu harmonischer Einheit und Ganzheit, zu Autonomie und sittlichem Charakter, zur Verwirklichung seiner selbst sollte das Individuum kultiviert werden. Wie ein Seidenwurm sollte es all seine guten Potenzen aus sich herausspinnen, um endlich das zu werden, was es ist.

Der Erfolg war mäßig. Da die allermeisten Zeitgenossen dem Wunschbild nicht genügten, wurde die Pädagogik zum Dauerbetrieb. Immer gibt es etwas zu korrigieren, zurechtzubiegen, abzuschneiden, immer neue Fehler müssen ausgebügelt, Unfähigkeiten ausgebessert, Untugenden ausgetrieben werden. Das kulturelle Niveau hat sich durch die Expansion der Bildungsaufträge mitnichten gehoben. Dafür haben Heerscharen von Schulmeistern, Umerziehern und Kursleitern eine sichere Beschäftigung gefunden. Anstatt die Selbständigkeit des Individuums zu fördern, hält die Gesellschaft die Subjekte in unbefristeter Unselbständigkeit und rechtfertigt damit die ideologische Überlastung ihres Bildungswesens.

Die Lage ist allseits bekannt. Als gesellschaftliche Leitschicht hat das gebildete Bürgertum schon vor neunzig Jahren abgedankt. Die Geschichte der europäischen Universität, die einst in Bologna begann, wurde daselbst auch wieder beendet. Die "Bildung durch Wissenschaft" ist längst von der "Wissenschaft als Beruf" ersetzt worden. Immerzu redet man von Bildung, und meint bestenfalls Berufsausbildung. In Schulen und Hochschulen wird der Stoff so verdichtet, dass niemand mehr zu einem eigenen Gedanken findet. Die Rückkehr zur Paukschule ist offenkundig. Ohne privates Repetitorium können viele sich das vorgeschriebene Wissen kaum mehr aneignen. Schon die ersten Gehversuche des Kleinkinds werden daher demnächst in einer Trainingsanstalt enden. So lernen die allermeisten Zöglinge nicht Charakter, sondern flexibles Durchlavieren, nicht Denken, sondern rasches Vergessen, nicht soziale Umsicht, sondern Ignoranz.

Dennoch schwelgen die Sonntagsreden weiter in Phrasen und Illusionen. Öffentliche Bescheidenheit ist daher unvermeidlich. Die Grenzen der Bildung liegen auf der Hand. Bildung schafft keine Arbeitsplätze und keine Gerechtigkeit. Sie hebt nicht die soziale Moral und vertreibt weder Sucht noch Gewalt. Vorschulen und Nachhilfen lösen keine gesellschaftlichen Probleme. Im besten Falle vermittelt die Erziehung den Menschen Mut zur selbständigen Lebensführung, nüchterne Urteilsfähigkeit und brauchbare Kenntnisse, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak" und 2007 der Band "Verteidigung des Privaten".
Wolfgang Sofsky
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