Bildungsforscher kritisiert sechsjährige Grundschule

Moderation: Marcus Pindur · 27.05.2008
Nach Einschätzung des Professors für Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, Rainer Lehmann, ist die sechs Jahre dauernde Grundschulzeit vor allem für leistungsschwache Schüler von Vorteil. Für die Leistungsstärkeren hingegen sei ein vorzeitiger Wechsel auf ein Gymnasium sinnvoll.
Marcus Pindur: Wir beschäftigen uns in dieser Woche im Deutschlandradio Kultur eingehend mit dem Thema Schule. Heute beleuchten wir die Grundschule. Sie ist in der Regel vierjährig. Alle müssen sie durchlaufen und sie stellt nicht alle Weichen für die zukünftige Bildungskarriere, aber doch einige wichtige. Über das, was die Grundschule leisten kann und soll, sprechen wir jetzt mit dem Bildungsforscher Professor Rainer Lehmann von der Humboldt-Universität in Berlin. Guten Morgen!

Rainer Lehmann: Guten Morgen, Herr Pindur!

Pindur: Sie haben eine Vielzahl von Studien über Schüler der Klassen eins bis sechs angestellt. Es gibt ja eine Debatte darüber – über die haben wir heute Morgen auch schon berichtet - ob die Grundschule vier oder sechs Jahre dauern sollte. In einem Bundesland, nämlich in Berlin, gibt es das auch. Ist das in Ihren Augen sinnvoll?

Lehmann: Man kann das nicht mit Ja oder Nein beantworten. Die sechsjährige Grundschule hat, so wie wir sie in Berlin kennen, einige Leistungen vorzuweisen. Sie hat ja schwierige Aufgaben zu erfüllen im Hinblick darauf, dass beträchtliche Lerndefizite, Lernrückstände auftreten schon vor Betreten der Schule. Andererseits hat sie natürlich auch die Aufgabe - wie es im Schulgesetz heißt - die Kinder zu der vollen Entfaltung ihrer Lernmöglichkeiten in Stand zu setzen. In dieser Hinsicht scheint sie nicht in allen Fällen so erfolgreich zu sein, wie man sich das wünschen würde.

Pindur: Wo ist sie denn nicht so erfolgreich? Die Argumentation der Befürworter der sechsjährigen Grundschule geht ja dahin, dass man sagt, gemeinsames Lernen bringt sozusagen dann auch einen größeren Lernerfolg.

Lehmann: Das scheint nur eingeschränkt zu gelten. Es scheint der Fall zu sein, dass gemeinsames Lernen von Vorteil ist für Kinder, denen dieses Lernen nicht so leicht fällt wie anderen vielleicht. Die können profitieren von der Anwesenheit von leistungsstarken Schülern. Andererseits kann man natürlich nur bedingt diesen Einsatz von den leistungsstärkeren Schülern verlangen um den Preis der Entfaltung der eigenen Möglichkeiten. Da muss man halt sagen, gibt es Lernbedürfnisse, die deutlich über das hinausgehen, was in der sechsjährigen Grundschule in Berlin realisiert werden kann.

Pindur: Also, die sechsjährige Grundschule benachteiligt die etwas leistungsstärkeren Schüler?

Lehmann: Benachteiligt ist ein zu starkes Wort. Sie ermöglicht nicht so rasche Lernfortschritte, wie sie bei diesen Kindern im vergleichbaren Alter möglich sind. Um das mal zu beziffern: Diejenigen, die in Berlin vorzeitig aufs Gymnasium überwechseln, haben schon einen beträchtlichen Lernvorsprung vor den übrigen in der Größenordnung von etwa zwei Schuljahren. Das ist nun eine hoch ausgelesene kleine Gruppe von ungefähr 10 Prozent des Jahrgangs. Diese Jugendlichen vergrößern diesen Vorsprung dann noch einmal wieder um mehrere Monate innerhalb der ersten zwei Jahre am Gymnasium. Das sind alles Größenordnungen, die nicht vernachlässigt werden können.

Pindur: Sprechen wir mal allgemein über die Situation deutscher Grundschulen. Wo liegen denn da die ärgsten Probleme Ihrer Ansicht nach?

Lehmann: In den Diskussionen der letzten Jahre ist immer darüber geklagt worden, dass Lehrer nicht in der Lage seien, mit der Heterogenität in ihren Klassen umzugehen, so die Standardformel, also mit den Unterschieden zwischen leistungsstarken und leistungsschwächeren Schülern innerhalb der eigenen Klassen. Aus meiner Sicht ist ein mindestens ebenso großes Problem das, dass diese Heterogenität, diese Vielfalt nicht unbedingt innerhalb der Klassen stattfindet, sondern zwischen den Klassen anzutreffen ist. Gerade in einem Kontext wie Berlin oder Hamburg oder Dortmund sehen Sie das sehr deutlich, dass die Einbettung einer Schule in einen bestimmten sozialen Kontext in ganz erheblichem Maße die dort anzutreffenden Schulerfolge bestimmt.

Pindur: Sind denn die Schulen materiell zumindest gut ausgestattet? Kann man da als Eltern beruhigt sein?

Lehmann: Nach allem was ich weiß, eher nicht. Die Investitionen im Grundschulbereich sind in Deutschland im internationalen Vergleich eher ungünstig. Hier sind Verbesserungen möglich. Andererseits muss man auch davor warnen, dass man mit mehr Geld gewissermaßen automatisch Bildungserfolge erkaufen kann. Das sicher auch nicht!

Pindur: Stimmt denn das Schüler-Lehrer-Verhältnis? Das war ja zu unserer Schulzeit, also vor 20, 30 Jahren, noch ein großes Problem.

Lehmann: Das ist stark variabel. Dieses Schüler-Lehrer-Verhältnis ist über viele Jahre gesunken, so dass weniger Schüler auf einen Lehrer kamen. In den letzten Jahren ist es aber wieder deutlich angestiegen in Abhängigkeit von Schülerzahlen und verfügbaren Pädagogen.

Pindur: Welche Rolle spielen die Eltern bei all dem? Mit anderen Worten: Was kann ich für mein Kind tun, damit es größtmögliche Anregungen aus der Schule mitnimmt?

Lehmann: Das gehört nun zu den paradoxen Elementen in der gegenwärtigen Diskussion. Eltern sind hochgradig interessiert an dem Erfolg ihrer Kinder. Jedenfalls gilt das in aller Regel. Wenn Eltern das Gefühl haben, dass die Schule die Kinder nicht in dem Maße fördert, wie sie das für billig und möglich halten, dann reagieren sie in verschiedener Weise. In Berlin zum Beispiel durch eine stark steigende Nachfrage nach grundständigen Gymnasialplätzen. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der wachsende Bedarf für Privatschulen außerhalb der öffentlichen Angebote. Also es gibt Ausweichbewegungen auf Seiten der Eltern, mit denen diese versuchen, die Bildungsqualität jenseits der öffentlichen Angebote gewissermaßen einzuwerben. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn in Zusammenarbeit zwischen Schulen und Eltern die Intensität der Bildungsbemühungen in den Schulen selber, namentlich in den öffentlichen Schulen, zunähme.

Pindur: Also Engagement der Eltern in den Schulen würde auch gut tun?

Lehmann: Nach allem, was wir wissen, ist das immer gut. Na klar! Und ein Teil der Differenzen, von denen ich vorhin sprach, bildet sich auch ab in unterschiedlichem Engagement der Eltern in Bezug auf den Bildungserfolg ihrer Kinder.

Pindur: Vielen Dank für das Gespräch!

Lehmann: Gerne!

Pindur: Der Bildungsforscher Professor Rainer Lehmann von der Humboldt-Universität in Berlin zum Thema Grundschule.