Bildungsferne Schichten

Von Jürgen Kaube |
Die Leute lesen nicht mehr. So wird geklagt. Das Bildungsbürgertum ist verschwunden. Es gibt nur noch Massen, die sich Massenvergnügen hingeben. Das Projekt "Kultur für alle" ist gescheitert. Es ist wirklich schlimm.
Nur eines ist noch schlimmer. Dass viele von denen, die so klagen, die ständig die Kultur hochhalten und in Gremien zur Förderung des Lesens sitzen, in Kulturausschüssen und Kulturpreis-Jurys, das eben diese Leute - nicht mehr lesen.

Nehmen wir als Beispiel den Fall Peter Handke. Dem Schriftsteller sollte der Heinrich-Heine Preis verliehen werden. So hatte es eine von der Stadt Düsseldorf eingesetzte Jury beschlossen. In ihr saßen Lokalpolitiker, sowie als Fachjury Literaturkritiker und Professoren. Man sich entschied mit Zweidrittelmehrheit für Handke.

Kaum aber war die Begründung bekannt, wurden Proteste laut. Denn der Preisträger sollte als eine Persönlichkeit geehrt werden, die durch ihr Werk der "Völkerverständigung" gedient und "die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen" verbreitet habe. Die Jury beschrieb Handke als "eigensinnig wie Heinrich Heine" und lobte, er habe seinen poetischen Blick "rücksichtslos gegen die veröffentlichte Meinung und deren Rituale" gesetzt.

Nun kann man sich fragen, ob der Beitrag von Dichtern zur Menschheit noch in etwas anderem als ihrer Dichtung zu suchen ist. Warum einem Schriftsteller also abverlangen, auch nach den Maßstäben der Vereinten Nationen vorbildlich zu sein? Stellt man dieses Bedenken zurück, dann ist es mit Peter Handkes Beiträgen zur Völkerverständigung natürlich so eine Sache. Das weiß jeder, der auch nur eine seiner polemischen Schriften zum Bürgerkrieg auf dem Balkan gelesen hat.
Aber es hatte sie eben niemand gelesen. Seine Befürworter in der Jury nicht, denn sonst müsste man ja an ihrem Verstand zweifeln, Handke für einen Völkerverständiger oder auch einen Erben Heinrich Heines zu halten.

Düsseldorfs Oberbürgermeister wollte, eigener Auskunft nach, dass die Preisverleihung eine Debatte über Slobodan Milosevic in Gang setzen sollte. Dass diese Debatte anlässlich der Besuche Handkes beim Den Haager Prozess und seiner Anwesenheit beim Begräbnis Milosevics schon seit langem unablässig geführt wird - weiß er davon nichts? Oder ist es einfach nur die gängige politische Phrase, zweifelhafte Entscheidungen damit zu rechtfertigen, man habe eine Diskussion auslösen wollen?

Ganz ausdrücklich erklärt das Jurymitglied Christoph Stölzl, einst Historiker und Berliner Kultursenator, im Hinblick auf Handkes politische Position "nicht sachkundig" gewesen zu sein. Ja, Handke und Serbien, er habe schon gewusst, da sei etwas gewesen. Doch eine Mitjurorin habe ihn beruhigt: Handkes Bemühen um Revision des anti-serbischen Bildes in der Öffentlichkeit sei unbedenklich.

Unbedenklich, eigensinnig, völkerverständigend - das sind absurde Kategorien gegenüber einem Schriftsteller, und sie tun gar nichts zur Sache. Denn was sind die Zweideutigkeiten und Verblasenheiten des um politische Wirkung bemühten Handke im Vergleich zu dem Abgrund an Faulheit, in den man blickt, wenn man sich diese Jury vorstellt?

Herr Stölzl war also bei Herrn Handkes politischen Schriften nicht sachkundig? Aber Handke hat seine Meinungen zum jugoslawischen Bürgerkrieg seit Jahren nicht in Kleinverlagen, sondern in den überregionalen Zeitungen publiziert. Jede gute Buchhandlung hätte den Professor unterricht. Für welches Fach ist jemand Fachjuror, wenn er nicht kennt, was der bekannteste deutsche Schriftsteller seiner Generation geschrieben hat, dem er aber im Namen Heinrich Heines einen 50.000-Euro-Preis mitverleiht?

Oder für welche Kultur ist jemand Staatssekretär, der wie der nordrhein-westfälische Kulturstaatssekretär Grosse-Brockhoff, auch ein Jurymitglied, zur Sitzung erst gar nicht erschienen ist und auch keinen Vertreter schickte, nachher aber verlauten lässt, die Entscheidung sei "einfach nicht nachvollziehbar"?

Und was haben die Leute gelesen, die nach der Entscheidung den Blödsinn in die Welt setzten, Handke habe "Mord, Vertreibung, Massenfolter und Vergewaltigung" relativiert? Deswegen könne der Rat der Stadt Düsseldorf die Entscheidung der Jury nicht bestätigen und Handke den Preis nicht bekommen.

Am Ende kam dann heraus, dass die Politiker nicht einmal die Satzung des Preises gelesen hatten. Die sieht nämlich ein Eingriffsrecht des Stadtrates überhaupt nicht vor. Demgegenüber fällt die Paradoxie kaum ins Gewicht, dass Peter Handke schließlich die Annahme eines Preises abgelehnt hat, dem man ihn zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr geben wollte.

Kultur für alle - warum fangen wir nicht damit an? Zum Beispiel, indem eine Lektürepflicht für Jurymitglieder eingeführt wird. Indem man Faulenzer nie wieder zu einem Fachjuror bestellt. Indem Staatssekretäre, denen der Preis nicht wichtig genug ist, um zur Sitzung zu kommen, danach die Klappe halten.

Und indem die Eliten endlich begreifen, in welchem Maße sie selber die bildungsferne Schicht sind, vor deren Anwachsen sie uns ständig warnen. Wenn die Kultur durch etwas gefährdet ist, dann sind es nicht die leeren Kassen oder der schlechte Massengeschmack - sondern dann sind es solche schmählichen Possen, aufgeführt von ihrem eigenen Personal.


Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.