Bildung und Meinungsbildung

Von Dieter Rulff |
In den frühen neunziger Jahren, als das Bildungsniveau noch wöchentlich im Kreuzworträtsel ermittelt wurde und Pisa nichts mehr war als eine mittelitalienische Stadt mit vier Buchstaben, irritierte Heiner Müller die Nation mit der Erkenntnis, dass zehn Deutsche dümmer seien als fünf. Man kann in diesen Worten des Dramatikers eine geradezu hellseherische Vorwegnahme dessen erblicken, was Jahre später die erste Pisa-Studie über den Wissensstand der Deutschen offenbaren sollte.
Seitdem versucht die Nation sich über die Gründe eine Meinung zu bilden. Dafür hat sie ihre Bildungspolitiker. Von ihnen wissen wir, dass sechzehn Bundesländer dümmer sind als das ganze Land und drei Schulglieder dümmer als eins. Arme Eltern sind dumm oder andersherum gesagt. dumme Eltern sind arm Auf jeden Fall haben dumme Eltern meist dumme Kinder und die sind immer arm dran.

Geändert hat sich seitdem nicht viel. Trotzdem sind die Deutschen schlauer geworden. Das hat eine zweite Pisa-Studie ergeben, die nun vorgestellt wurde. Man sollte vielleicht an dieser Stelle erwähnen, dass die Präsentation der Studie vorgezogen wurde, wegen der anstehenden Bundestagswahl. Augenscheinlich erhoffte man sich einigen politischen Aufschluss.

Immerhin wissen wir nun, dass fünfzehn Bundesländer dümmer sind als Bayern und deshalb eine eingliedrige Schule dümmer macht als eine dreigliedrige. In Baden-Württemberg haben arme Eltern nicht unbedingt dumme Kinder in anderen Bundesländern schon. Die ostdeutschen Bundesländer sind zwar seit es sie gibt arm dran, stehen aber nicht so dumm da, wie Heiner Müller immer meinte. Dabei ist mit Blick auf die Bundestagwahl vielleicht noch folgende Differenzierung hilfreich. Wer in einem Land lebt, das lange von der CDU regiert wurde, ist nicht so dumm dran, wie einer, in dessen Bundesland die Regierung häufig wechselte. Das ergaben die Ergebnisse von Sachsen und Mecklenburg- Vorpommern. Wie dumm es ist, in einem Bundesland zu leben, das lange von der SPD regiert wurde, konnte leider nicht ermittelt werden. Denn dafür gibt es schon seit Längerem kein Beispiel mehr.

(Immerhin lässt sich mit Blick auf den 18. September noch anmerken, dass Große Koalitionen augenscheinlich einen noch schlechtern Einfluss auf das Bildungsniveau haben als ein häufiger Regierungswechsel. Denn Bremen bildet das Schlusslicht unter den Bundesländern.)

Wem all diese Schlussfolgerungen zu dumm sind, dem sei versichert, dass sie in der einen oder anderen Weise in den letzten Tagen getroffen wurden. Mit den Pisa-Studien soll Vergleichbarkeit Einzug in die Schulen halten. Doch haben sie vor allem zu einem permanenten Vergleichen der Schulpolitiker geführt. Nachdem in der ersten Pisa-Studie Finnland als Spitzenreiter feststand, galt SPD und Grünen das dort praktizierte eingliedrige Schulsystem als der Weisheit letzter Schluss. Auch in der zweiten Studie ist Finnland international Spitze, doch Bayern und Baden-Württemberg sind nationale führend. Daraus folgert nun die CDU, dass der Dreigliedrigkeit die Zukunft gehört. Doch man kann, wie der Pisa-Bildungsexperte Klaus Klemm, aus dem gleichen Ergebnis auch die entgegen gesetzte Schlussfolgerung ziehen.

In den lange von der CDU regierten Ländern sei die Leistung zwar deutlich besser, doch liege das daran, dass die von der SPD favorisierte Gesamtschule nicht konsequent genug umgesetzt worden sei. Und mit einer verblüffenden Offenheit erklärt der Pisa- Mann, worum es in der Debatte eigentlich geht. Nämlich, ob wir geringere Schulabschlüsse mit hoher Kompetenz wollen oder geringere Kompetenz mit hohen Schulabschlüssen. Ersteres bedeutet fordern, letzteres jedoch nicht unbedingt fördern sondern vielmehr befördern – indem die Anforderungen reduziert werden.

Den Eltern, denen an guten Abschlüssen und an vielen Kompetenzen gleichermaßen gelegen ist, hilft dieser Streit um Sein und Schein nicht viel weiter. Wo die Bildungspolitiker in Systemen und Modellen denken, steht für sie die konkrete Schulsituation im Mittelpunkt. Von ihr hängen Lernbereitschaft und Fortkommen des Schülers ab. Der Lehrer kann Defizite des Elternhauses ausgleichen, er kann motivieren und Vorbild sein. Gute Lehrer haben schon längst aufgehört, lediglich Experten ihrer Fächer zu sein. Sie wurden immer mehr auch zu Erziehern. Das verlangt von ihm jedoch eine innere Stärke, die kaum ein Lehrplan vermitteln kann.
Die deutsche Lehrerschaft ist überaltert, häufig in jahrelanger Gängelung und Routine ausgelaugt. Die Schulen brauchen, ob drei- oder eingliedrig, mehr Freiräume, eine bessere Ausstattung und jüngeres Personal. Was diese Verbesserung bewirken kann, zeigt das finnische Beispiel. Es zeigt aber auch, wie diese Verbesserung auch finanziert werden kann. Hier ist das Ansehen der Lehrer hoch, ihre Besoldung liegt gleichwohl um ein Drittel unter dem deutschen Level. Darin besteht die eigentliche Grenze der Übertragbarkeit des finnischen Modells.

In der deutschen Beamten- und Besoldungsstruktur spiegelt sich noch der Schulbegriff des vergangenen Jahrhunderts wieder. Sie ist ebenso unflexibel wie das Institut der Kultusministerkonferenz. Hier Veränderungen herbeizuführen, erfordert eine hohe Problemlösungskompetenz. Doch soll diese ja, wie die aktuelle Pisa-Studie ergeben hat, in Deutschland gewachsen sein. Das lässt hoffen.
Dieter Rulff, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die taz und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Seit dem März 2002 ist Rulff freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte.