Bildung und Gerechtigkeit

Von Michael Felten · 12.02.2008
Flächendeckende Diskriminierung im Bildungsbereich – wer das hört, wird ungern lange in Statistiken herumblättern, sondern unmittelbar Abhilfe schaffen wollen. Dabei wäre ein genauer Blick auf die Zahlen wichtig. Denn dann würde deutlich, dass die aufrüttelnde Botschaft vor allem deswegen zustande kommt, weil Äpfel mit Birnen verglichen werden.
Beispiele: Zwar mögen in Bremen weitaus mehr Migranten- und Arbeiterkinder die "höhere Schule" besuchen als in Bayern, aber das nützt ihnen nicht viel: Die Leistungen der Südländer sind selbst dann im Schnitt besser, wenn diese nur an Haupt- oder Realschulen lernen. Denn für den einzelnen Jugendlichen zählt nicht die Schulformquote, sondern welche fachlichen Fähigkeiten ihm die Schule tatsächlich vermittelt.

Auch der Verweis auf Länder mit einem angeblich höheren Akademisierungsgrad ist windig. So lernen in Schweden zwar 90 Prozent aller Schüler an Gymnasien, aber davon gibt es 17 verschiedene Varianten – und nur drei davon berechtigen zum direkten Hochschulzugang, sind also unserem Abitur vergleichbar. Oder Finnland: Dort findet man zwar mehr Arbeitertöchter an Universitäten als bei uns – aber nicht zuletzt deshalb, weil eben auch Krankenschwestern an Hochschulen ausgebildet werden. Abgesehen davon leidet Finnland unter einer extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit. Es kommt also weniger auf den Titel des Abschlusszeugnisses an, als darauf, was ein junger Mensch in der Berufswelt damit anfangen kann.

Schließlich läge Deutschland in der weltweiten Leistungsskala wie auch in Sachen Bildungsgerechtigkeit weitaus besser, wenn seine Migrantensituation nicht viel schwieriger wäre als in anderen PISA-"Sieger"-Ländern: Finnland und Japan etwa haben kaum Einwanderer, Kanada nimmt nur besonders vorqualifizierte, und Frankreichs Zugezogene entstammen vorwiegend dem gleichen Sprachraum.

Ein oberflächlicher Vergleich ist jedenfalls trügerisch. Tatsächlich zeigt ein Blick auf den Mikro¬zensus, dass es in Deutschland ein hohes Maß an Bildungsmobilität gibt, und zwar überwiegend aufwärts. Gleichwohl bleibt die Frage, ob und wie man die soziale Bildungsbeteiligung ausweiten kann. In drei Bereichen wird im Schulischen bereits Sinnvolles unternommen: qualifiziertere Vorschulerziehung, frühe Sprachförderung, Ausweitung der Ganztagsschule. Ein weiteres Entwicklungsfeld wäre die Unterrichtsqualität: Gerade für Kinder aus bildungsferneren Schichten ist der modische Trend zu selbstgesteuertem Lernen ein Erfolgsrisiko. Für sie sind die mittelschichtorientierten Schulstoffe nämlich besonders fremd – also auch ängstigend.

Dennoch wird enttäuscht werden, wer blühende Bildungslandschaften alleine von der Schule erwartet. Denn wenn der Lehrer erst erziehen muss, um dann unterrichten zu können, gerät er natürlich ins Hintertreffen. Wir kommen also nicht umhin, an einem Tabu zu rütteln - der Ausblendung des Elternhauses in schulischen Dingen. Dabei hat PISA etwas höchst Bedenkenswertes zutage gefördert, über das aber kräftig geschwiegen wird: Deutschlands Eltern nehmen sich weltweit am wenigsten Zeit, mit ihren Kindern über das Lernen zu sprechen, sich nach Fortschritten zu erkundigen, bei Problemen beizuspringen. Nun sagt aber alle sozialwissenschaftliche Forschung: Es ist die Familie, die das Fundament für Erfolg oder Misslingen in der Schule legt. Und das hängt keineswegs nur von der Anzahl der Bücher im elterlichen Regal ab. Mindestens ebenso wichtig ist, wie Mütter und Väter mit ihrem Nachwuchs im Alltag umgehen: ob sie der kindlichen Lernfreude häufig entgegenwirken oder sie sinnvoll unterstützen. Ob sie den lieben Kleinen schon früh die Erfahrung gönnen, dass man sich durch Schwierigkeiten hindurch beißen kann. Und dass es einen zufrieden macht, wenn man die Regeln eines gedeihlichen Miteinanders kennt und einhält.

Die Wirklichkeit vieler Kinderzimmer ist indes eine andere: Hier waltet elterliche Verwöhnung, dort grassiert erzieherische Verödung. Fulbert Steffensky nennt dies die "Pädagogik der Ermäßigung". Wir überlassen unsere Kinder zu oft der Glotze oder Spielkonsole; wir neigen zu sehr dazu, unserem Nachwuchs alle möglichen Anstrengungen abzunehmen. Vieles ließe sich tun, um Eltern in der gegenwärtigen Erziehungsunsicherheit zu unterstützen: Mütterkurse anbieten, die für unterschiedlichste Schichten attraktiv sind; bis weit in die Schulzeit hinein für Erziehungsberatung werben; Patenmodelle während der Pubertät schaffen; in den Schulen großzügig Elternsprechzeit anbieten und regelmäßig pädagogische Rundbriefe verschicken. Es geht um Erziehungspartnerschaft – aber das müsste mehr als ein Stück Papier sein, das Eltern und Lehrer beim Schuleintritt unterschreiben.

Michael Felten, geboren 1951, arbeitet seit 28 Jahren als Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln. Er ist Autor von Unterrichtsmaterialien und Präventionsmedien, Erziehungsratgebern und pädagogischen Essays. Dabei geht es ihm darum, den Praxiserfahrungen der Lehrer in der öffentlichen Bildungsdebatte mehr Gehör zu verschaffen. Frühere Veröffentlichungen: "Kinder wollen etwas leisten" (2000), "Neue Mythen in der Pädagogik" (2001), "Schule besser meistern" (2006). Kürzlich erschienen: "Auf die Lehrer kommt es an! Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule". Eigene Website zu pädagogischen Themen: www.eltern-lehrer-fragen.de