Bildung

Tigermama, nein Danke!

Von Ruth Kirchner  · 18.03.2014
China will weg vom Image der Werkbank der Welt hin zu mehr Innovation. Größter Hemmschuh, sagen Bildungsexperten, sei das chinesische Schulsystem, das mit sturer Paukerei und gewaltigem Prüfungsdruck schon den Kindern Kreativität und Neugier austreibe. Manche Eltern suchen daher nach Alternativen zu Drill, Disziplin und Demut in der Schule.
Ein Spielzentrum mitten in Peking. In einem Raum mit bunten weichen Bodenmatten wühlen Vier- bis Sechsjährige in großen Kisten mit Lego. Eine Lehrerin hockt daneben – macht Vorschläge oder lässt die Kinder einfach mit den bunten Bausteinen experimentieren. Auch der sechsjährige Sohn von Frau Yang kommt einmal pro Woche in das Lego-Zentrum.
"Spielen ist doch wichtig. Vor allem für Kinder in diesem Alter. Sie mit Wissen zu überhäufen ist nicht gut. Spielen ist wichtiger. Das hilft auch ihrer Fantasie."
Ganz neue Töne von Chinas Tigermüttern. Statt ihre Kinder von klein auf zu Hochleistungen und akademischen Erfolgen anzutreiben, entdecken sie, dass Lernen auch Spaß machen kann.
"Das wichtigste ist doch, dass die Kinder neugierig bleiben, sich für Wissenschaften oder Kunst interessieren. Wenn Du ihnen zu früh zu viele und zu anspruchsvolle Kurse zumutest, dann fangen sie an das alles zu hassen."
Jede Woche volles Programm
Laissez-Faire ist Mutter Yangs Sache allerdings nicht. Wie in China üblich hat auch ihr Sohn jede Woche volles Programm. Er muss nach der Ganztagsschule auch noch einen Englisch-Kurs absolvieren, Klavier lernen und einen Kurs für Denktraining besuchen. Auch das Spielen im Lego-Zentrum ist nicht nur als Spaß gedacht:
"Es hilft ihm in der Schule. Es verbessert sein Selbstvertrauen, er lernt Schwierigkeiten zu überwinden und verbessert seine Fähigkeiten Probleme zu lösen."
Und trotzdem: Chinas Tigermütter entdecken, dass sie auch mal Schmusekatzen sein dürfen. Oder sogar müssen. Denn im modernen China reicht es nicht mehr einfach nur gute Noten abzuliefern oder wiederzukäuen, was die Lehrer vorgeben. Eigenständiges Denken ist gefragt, eigene Ideen. Denn die Volksrepublik will nicht auf ewig für den Rest der Welt Smartphones und Laptops zusammenschrauben. Ministerpräsident Li Keqiang hat beim Volkskongress Anfang des Monats den Delegierten der Kommunistischen Partei gerade erst wieder das neue Credo eingebläut:
"Wir dürfen uns in Zukunft nicht mehr nur auf steigende Produktion verlassen, sondern müssen unsere Entwicklung mehr auf Innovation stützen.2
China ist auf der Suche nach etwas Neuem: Nicht mehr Werkbank der Welt, sondern Innovation und Kreativität. Irgendwann, so der Traum, sollen die Gadgets, die alle Welt unbedingt haben will, nicht mehr nur aus den USA oder Japan kommen, sondern auch aus China. Aber wie wird man kreativ? Am besten fängt man schon ganz früh an, sagt Fang Ping, Direktor des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Beijing Normal University:
"Ich denke die Bildung spielt eine ganz wichtige Rolle bei der Kultivierung der Kreativität und als Motivation für die weitere Entwicklung. Die Verantwortlichen haben das mittlerweile erkannt und räumen Bildungsreformen einen hohen Stellenwert ein. Erfolgreiche Erfahrungen westlicher Länder wollen wir in unsere Reformen aufnehmen."
Schulsystem ist Hemmschuh
Doch Chinas Schulen sind bislang noch nicht gerade ein Hort kreativer Inspiration. Seit Jahrzehnten dominieren das Rezitieren im Chor, das Pauken von Prüfung zu Prüfung. Im harten Konkurrenzkampf um die begehrten Plätze in den besten Ober-schulen und Universitäten zählen nicht die brillante Analyse, das außergewöhnliche Physik-Projekt, die eigene Versuchsreihe oder die ungewöhnliche Interpretation eines Romans. Worauf es ankommt sind Prüfungsergebnisse, das Abspulen vorgefertigter Antworten, das Auswendiglernen festgelegter Inhalte. Das Schulsystem sei daher der größte Hemmschuh für die Entwicklung einer innovativen und kreativen Gesellschaft, sagt Yang Dongping vom Pekinger Institut für Technologie, einer der schärfsten Kritiker des Bildungssystems:
"Eines unserer Grundprobleme ist dies: alle Tests haben Standard-Antworten. Lehrer und Eltern achten darauf, dass die Schüler diese Antworten lernen, sie werden nicht ermutigt zu hinterfragen, kritisch zu sein, etwas Neues zu entdecken. Daher gibt es keine Innovation bei uns. Seit der Gründung der Volksrepublik vor 60 Jahren haben wir keine Wissenschaftler von Weltrang hervorgebracht. Das ist schlichtweg die Realität."
Die Klagen, dass Chinas Kinder und Jugendliche zu reinen Lernmaschinen heran-gezogen werden, beherrschen seit Jahren die Bildungsdebatte in der Volksrepublik. Mit dem Ergebnis, dass alle über den unmenschlichen Druck lamentieren, der auf den Kindern lastet und doch alle mitmachen. Vor diesem Hintergrund sind die Mütter im Lego-Spielzentrum doch etwas Besonderes. Und: Sie sind nicht die einzigen, die den Vorstoß wagen in eine kreativere Zukunft.
Dies ist keine reguläre Schule, sondern die Wohnung von Zhang Qiaofang. Im zweiten Stock eines Hochhauses in der Nähe des Olympiageländes unterrichtet der 48-jährige jeden Tag seinen eigenen Sohn zusammen mit ein paar andern Kindern. Die Kinder sitzen an niedrigen Tischen auf winzigen Stühlen. An den Wänden hängen nicht Fotos von Parteichef Xi Jinping oder Staatsgründer Mao Zedong, sondern Bilder von Mahatma Gandhi, Beethoven, Einstein, Barack Obama – und Wladimir Putin. Der studierte Physiker Zhang hat vor zwei Jahren damit begonnen in seinen eigenen vier Wänden eine Schule aufzubauen, nachdem er seinen damals sechsjährigen Sohn aus einer Pekinger Grundschule wieder rausnahm:
"Die prüfungsorientierte Bildung hat sich ins Extreme entwickelt. In der Schule lernen die Kinder nichts Nützliches mehr und werden später nicht zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft. Wie sollen Kinder denn später innovativ werden, wenn wir ihnen genau das schon ganz früh austreiben."
Eigeninitiative und natürliche Neugier
Zhang hat seine eigenen Lehrmaterialien entwickelt, er setzt viel auf Eigeninitiative, auf die natürliche Neugier und Lernbereitschaft von Kindern. Er hat einen Englisch-Lehrer angestellt, der den Kindern die fremde Sprache so beibringen soll, dass sie sie auch tatsächlich sprechen können. Auch die Naturwissenschaften sind ihm wichtig, die Konzepte, nicht nur das Einpauken von Formeln und Regeln.
"Homeschooling ist für mich die Idee eines offenen Lehrens und Lernens. Unser Klassenzimmer endet nicht hier in dieser Wohnung. Auch unsere Nachbarschaft, die Umgebung ist Teil des Klassenzimmers. Wir gehen nach draußen, in die Parks und Museen. All diese Orte sind Bühnen fürs Lernen."
Homeschooling ist in China immer noch die große Ausnahme und bewegt sich in einer juristischen Grauzone. Nur wenige Eltern entscheiden sich für eine dermaßen radikale Abkehr vom staatlichen System. Trotzdem ist Zhang Qiaofang mit Feuer-eifer dabei sein alternatives Schulkonzept zu entwickeln. Und bislang lässt man ihn gewähren. In Chinas staatlich kontrollierten Medien schwingt sogar ein bisschen Bewunderung für den Schulrebellen mit, der das traditionelle System als Sackgasse darstellt, weil es nebenbei auch noch die sozialen Fähigkeiten der Schüler verkümmern lässt.
"In chinesischen Schulen legen die Lehrer normalerweise keinen Wert auf soziale Fähigkeiten. Sie sind sehr streng mit den Kindern, die sozialen Fähigkeiten werden an den Regelschulen nicht gefördert."
Und trotzdem tut sich was, sind junge Chinesen längst nicht mehr die gehorsamen Schafe, die dem Leithammel hinterher trotten. Gerade die Metropole Peking gilt als Spielwiese einer neuen Generation, die viel westlicher ist als ihre Vorgänger und sich ihre eigenen kreativen Nischen sucht.
Zum Beispiel hier im Norden Pekings. In Zhonguancun, dem Silicon Valley der chinesischen Hauptstadt. In einem unscheinbaren Geschäftshaus auf der Rückseite eines Einkaufszentrums ist im zweiten Stock eine Art Zukunftswerkstatt untergebracht. Hier wird mit hochmodernen Werkzeugen – etwa mit Laser-Cuttern – zu-nächst gebastelt. Hier treffen sich Menschen mit Ideen, die über Innovation nicht nur reden, sondern etwas Neues herstellen wollen. „Makerspace“ heißt das Unternehmen, das vor drei Jahren von dem 28-jährigen Wang Shenglin gegründet wurde.
"Makerspace ist eine offene Plattform, die Leute mit Ideen helfen kann, diese auch zu realisieren. Darüber hinaus wollen wir auch jenen helfen, die bereits ein Modell entwickelt haben, es in ein gutes Produkt zu verwandeln."
Sachen selbst machen
Klingt kommerziell und soll es eines Tages auch werden. Nur: Profit macht Wang Shenglin bislang nicht. Makerspace orientiert sich an der amerikanischen "Maker"-Bewegung, eine Art Massenheimwerken im Elektronikzeitalter. Computerfreaks, Designer, Künstler und Mode-Interessierte kommen zusammen
An Wochenende sind es vor allem junge Leute, die sich hier treffen – manchmal nur ein Dutzend, manchmal 50 oder 60. Fast tausend Quadratmeter Bürofläche hat Makerspace angemietet. Makerspace veranstaltet so genannte Meet-ups, bei denen Ideen entwickelt werden. Bei anderen Treffen versuchen Teams innerhalb von 48 Stunden ein neues Produkt zu kreieren.
"Wir wollen selbst etwas tun. Viele Leute in China sind nicht daran gewöhnt, Sachen selbst zu machen. Wir diskutieren endlos, aber nichts passiert. Das wollen wir ändern. Wir wollen Leuten zeigen, dass sie ihre Ideen tatsächlich verwirklichen können."
Wang selbst hat zusammen mit einem Modedesigner und einem IT-Experten Schuh-Absätze entwickelt, die ihre Farbe und Muster ändern können. Das war cool, sagt der studierte Finanzwissenschaftler lachend. Andere Teilnehmer seiner Workshops haben ein intelligentes Armband mit Wifi entwickelt, das Blinde führt und durch Vibrationen anzeigt, in welche Richtung sie gehen müssen. Interdisziplinäres Arbeiten sei für viele Chinesen völlig ungewohnt, sagt Wang. Aber genau daraus entstünden neue Ideen.
"Vielen fällt es schwer aus ihrer Komfortzone herauszutreten. Sie finden es schwierig ihre Ideen zu kommunizieren, etwa ein Ingenieur zusammen mit einem Modedesigner und einem Künstler. Dabei wollen wir helfen. Wenn man lernt, all diese Stärken zusammenzubringen, über die Grenzen des eigenen Fachgebiets hinweg zusammenzuarbeiten, hilft das bei den nächsten Projekten."
Noch warten die Leute von Makerspace auf den großen Durchbruch mit einem Produkt, dass echte Marktchancen hat. Und bei dem es keine Copyright-Probleme gibt – denn damit nimmt man es derzeit in der Zukunftswerkstatt noch nicht so genau. Doch selbst die Stadtregierung ist bereits auf das Unternehmen aufmerksam geworden und fördert es. Wie viel an staatlichen Geldern er bekommt, will Wang nicht verraten. Insgesamt hat er 10 Millionen Yuan an Startkapital aufgetrieben, über eine Million Euro. Auch seine privaten Geldgeber hoffen, dass in Zhongguancun eines Tages die Ideen von Morgen entwickelt werden, mit denen China den Sprung in die Innovationsgesellschaft schaffen kann.
Mehr Freiheit und Ausdrucksmöglichkeit
Im Legospielzentrum warten die jungen Mütter unterdessen auf das Ende der Spielkurse ihrer Kinder. Sie sind hin- und her gerissen zwischen traditionellen asiatischen Bildungsvorstellungen und dem Wunsch ihren Kindern mehr Freiheiten und mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu gewähren. Kreativität gilt Mutter Carol Wang zunächst als zusätzliches Kapital im Kampf um die beste Startposition in die Zukunft. Auch beim Spielen wird nichts dem Zufall überlassen.
"Wenn mein Sohn alleine spielt, denkt er ja nicht nach, sondern spielt nur. Aber hier in dem Kurs lernt er systematisch. Die Lehrer leiten ihn an und inspirieren ihn. Das fördert seine Kreativität. Lernen durch Spielen ist wichtig, aber natürlich muss er auch Englisch- und Mathematikkurse besuchen.(lacht)"
Trotzdem sei China auf dem richtigen Weg, sagen Bildungsexperten. Mittlerweile kommen Bildungspolitiker aus Großbritannien und Amerika nach China um hier herauszufinden, warum beispielsweise chinesische Schüler in Mathematik so viel besser abschneiden als ihre westlichen Mitschüler. Umgekehrt suchen chinesische Experten nach Mitteln und Wegen das chinesische Bildungssystem durchlässiger, kindgerechter und kreativer zu machen, sagt Professor Fang Ping.
"Wir können das Bildungssystem nicht über Nacht ändern, das geht nur schrittweise und braucht Zeit. In den meisten Regionen wird noch nach dem alten Modell unterrichtet – Schüler stellen keinen Fragen, hören nur zu, es gibt keine echte Kommunikation mit den Lehrern. Aber in den Metropolen und Küstenregionen hat sich schon viel geändert. In zehn Jahren werden chinesische Schüler und Studenten was die Kreativität angeht das gleiche Niveau erreicht haben wie die westlichen Industrieländer."
Und wer weiß. Aus Chinas Tigermüttern sind bis dahin vielleicht dann wirklich Chinas neue Kuschelmütter geworden. Homeschooling und alternative Schulkonzepte abseits des Mainstream sind bis dahin vielleicht nicht mehr verpönt und Makerspace ist dann vielleicht ein weltweit anerkanntes Innovationszentrum. Man muss träumen können und was tun, sagt Wang Shenglin. Nicht umsonst steht ja am Eingang zu seiner Zukunftswerkstatt in großen Lettern: das Traum-Labor.
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