Bildung an Berliner Schulen

Schüler verfehlen Mindeststandards, die Verwaltung aber auch

06:44 Minuten
An einer Schulgarderobe hängen Taschen und Rucksäcke dicht an dicht. Darüber bröckelt die Farbe von der Wand.
Nachholbedarf auf vielen Ebenen: Der bröckelnde Putz in dieser Berliner Schule ist nur das äußerlich sichtbare Symptom eines viel größeren Problems. © Imago / Rolf Zöllner
Von Claudia van Laak · 02.09.2021
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Kein Bundesland gibt mehr Geld für Schulen aus als Berlin – und in keinem Bundesland sind die Ergebnisse so schlecht. Der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller kommt zu einer vernichtenden Einschätzung über die Berliner Bildungsverwaltung.
Mohammed beugt sich über eine Skizze, die Nachhilfelehrer Herbert Weber gerade auf das Papier gezeichnet hat. "So, stell Dir jetzt mal vor, ein Achtel von dem Kuchen, wo ist ein Achtel?" In der rechten Hand hält der Zwölfjährige einen schwarzen Bleistift, in der linken ein Geodreieck. Mohammed ist verwirrt, das mit den Brüchen versteht er nicht.

Schulen in sozialen Brennpunkten

"Du hast ein Ganzes, das Ganze ist der Kuchen. Aus dem Ganzen machst Du acht Stücke. Das ist dann ein Achtel, verstehst Du das? Das ist ein Achtel, mehr ist das nicht."
Mohammed ist in der sechsten Klasse und hat gerade mit dem Bruchrechnen angefangen. Eigentlich steht das Thema schon in der fünften Klasse auf dem Lehrplan. Doch Mohammeds Klasse hinkt ein Jahr hinterher. Corona hat die Schulen in den sozialen Brennpunkten besonders getroffen.
Grauer, bröckelnder Putz an einer Berliner Schule.
Nicht nur die Berliner Schulen sind in einem schlechten Zustand. Das Problem liegt bei der Bildungsverwaltung.© Imago / Rolf Zöllner
"Also ich fand es nicht gut, dass wir Lockdown hatten", sagt Mohammed. "Wir haben da viel verpasst und das ist für uns Schüler nicht so gut. Allein lernen macht auch nicht so einen Spaß. Wenn ich etwas nicht verstehe, dann frage ich meine Eltern. Die helfen mir, aber das reicht nicht."

Eltern legen Wert auf Bildung

Nebenan sitzen Ali und Suhayb über ihren Biologiehausaufgaben. Es geht um den Aufbau der Zelle. Beide kommen fast jeden Nachmittag zu Sprint, einer gemeinnützigen Nachhilfeschule im Berliner Stadtteil Wedding. Ihre Eltern legen viel Wert auf Bildung – sonst wären ihre Kinder nicht hier – können aber selten helfen.
"Ich habe keine Hilfe, weil meine Geschwister sehr beschäftigt sind", erzählt Ali. Suhayb berichtet von ihren Erfolgen: "Auf dem Zeugnis war es sehr schlecht letztes Jahr, nur Vieren und Fünfen, seitdem ich hier bin, habe ich nur Einsen und Zweien bekommen." Auch Ali hat sich stark verbessert und ist erleichtert darüber.
Die Nachhilfeschule liegt im dritten Hinterhof, im ersten liegt ein Haufen Müll. Eine verdreckte Matratze, ein kaputter Wäscheständer, ein ausrangierter Kinderwagen. Die Nachbarn scheint das nicht zu stören, sie gehen ungerührt daran vorbei. Hier im Soldiner Kiez leben 90 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Familien. Die große Mehrheit hat türkische oder arabische Wurzeln.

Fast nur Wortsalat

Vor 16 Jahren hat Herbert Weber, Landschaftsgärtner und Politikwissenschaftler, die gemeinnützige Nachhilfeschule Sprint gegründet. "Es ist schon erschütternd, wenn man sieht, dass aus drei Klassen mit 25 Kindern nur einer eine Lehre macht. Und das bei dem derzeitigen Fachkräftemangel."
Seine Bilanz: Obwohl das Land Berlin viel Geld in die Brennpunktschulen steckt, ist die Lage schlechter statt besser geworden. Eine gezielte Sprachförderung finde nicht statt, bemängelt Weber. Vor Kurzem seien die schriftlichen Arbeiten zum mittleren Schulabschluss im Bezirk ausgewertet worden.
"Da war die Durchschnittsnote bei den Sekundarschulen 5 plus. Das heißt de facto, dass die Schüler im zehnten Schuljahr nicht schreiben können. Oder fast nur Wortsalat produzieren, wo man sich mühsam den Sinn herausfischen muss. Das ist auch meine Erfahrung."

Bildungskatastrophe

Nachhilfelehrer Weber nennt das eine Bildungskatastrophe. Die Brennpunktschulen haben einen schlechten Ruf. Die Lehrerinnen und Lehrer bewerben sich weg, deshalb landen überproportional viele Quereinsteiger an diesen Schulen.
Die Schulabschlüsse seien geschönt, meint der Bildungsexperte. Die Anforderungen würden immer weiter gesenkt. Dazu passt, was der zwölfjährige Mohammed erzählt:
"Unser Lehrer meinte, wenn ihr die Hausaufgaben macht, aber es ist falsch, das ist dann egal. Hauptsache ihr habt euch bemüht. Wenn wir uns bemühen, reicht das für ihn, sagt er."
Obwohl Berlin – gemeinsam mit Hamburg – pro Kopf das meiste Geld in die Schulen steckt, sind die Ergebnisse erschreckend. Die Schülerinnen und Schüler liegen bei allen bundesweiten Bildungsvergleichen hinten. Ihre Leistungen haben sich in den vergangenen Jahren sogar noch verschlechtert.

Mindeststandards verfehlt

In den Kernfächern Deutsch und Mathe sieht es besonders düster aus. Bei einem bundesweiten Leistungsvergleich verfehlten 51 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Sekundar- und Gemeinschaftsschulen die Mindeststandards. In Baden-Württemberg waren es nur 30 Prozent.
Der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller hat im Auftrag der Senatsverwaltung das Schulsystem in der Hauptstadt untersucht. Er erzählt, dass Lehrerinnen und Lehrer aber auch Schulleitungen argumentieren: "Kommt uns nicht damit, dass wir denen Deutsch und Mathematik beibringen sollen oder Englisch und die Naturwissenschaften. Wir sind schon froh, wenn die sich benehmen können." Mit dieser Botschaft könne man natürlich zentrale Ziele schulischen Lernens nicht erreichen.

Geld mit der Gießkanne

Köller kritisiert besonders, dass die Berliner Bildungsverwaltung das Geld mit der Gießkanne verteilt. Weder hat sich das seit einem Vierteljahrhundert von der SPD geführte Bildungsressort konkrete Ziele gesetzt, geschweige denn ist verbindlich festgelegt, wie und wann diese Ziele erreicht werden sollen.
Sandra Scheeres sitzt an einem Gruppentisch in einer Schule und spricht mit einem Kind.
Die SPD-Politikerin Sandra Scheeres ist seit 2011 Bildungssenatorin in Berlin.© picture alliance / Maurizio Gambarini/dpa
Köllers Gutachten mahnt eine "gezielte Reorganisation der Bildungsverwaltung und ihrer zentralen Geschäftsprozesse" an. Er fordert: "Eine klare Zieldefinition, eine Anpassung der Maßnahmen, die man ergreift, an diese Zieldefinition, und dann regelmäßige Überprüfung."

Verbeamtung der Lehrer

Die SPD setzt in ihrem Wahlprogramm allerdings mehr auf das Thema kostenlose Bildung für alle. Selbst Besserverdienende sollen nicht für die Kita oder das Schulmittagessen zahlen müssen. In puncto Brennpunktschulen verspricht Franziska Giffey, die Spitzenkandidatin der SPD:
"Die besten Schulen in die schwierigsten Kieze. Gerade da zusätzliche Förderung. Und wenn die Eltern das nicht leisten können, müssen wir es leisten. Von staatlicher Stelle, mit einer guten Ganztagsbetreuung."
Wie die besten Lehrerinnen und Lehrer allerdings in die schwierigsten Kieze gelockt werden sollen, das sagt Giffey nicht. Auf jeden Fall will die SPD die Lehrkräfte wieder verbeamten. Außer den Linken wollen das die anderen auch. Damit soll die Abwanderung gestoppt werden. Berlin ist derzeit das einzige Bundesland, in dem die meisten Lehrkräfte Angestellte sind.
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